Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
allein an meinem Tisch saß und mir einen Abenteuercomic mit der Menschlichen Fackel und der wohlgestalten wilden Hummel Asbestos Lady zu Gemüte führte – inmitten eines Zimmers voller verlassener Schultische, unter denen jeweils ein Paar nach hinten schauender Füße und ein Kinderarsch hervorlugten.
Junge, kriegte ich Ärger. Ja, mehr als einfach nur Ärger. Zum einen kriegte auch Miss Kompakte Kleine Fettwalze Ärger, weil sie ihre Aufsichtspflichten vernachlässigt hatte, und wurde und blieb stink-, stinksauer auf mich.
Zum anderen war meine eigene Schande praktisch unermesslich. Ich hatte Schande über die Schule gebracht. Ich hatte der Direktorin Schande gemacht. Ich hatte Schande über mich selbst gebracht. Ich hatte meine Nation beleidigt. Sich nicht auf einen Atomkrieg vorzubereiten war kein Kavaliersdelikt und nur einen halben Schritt von Landesverrat entfernt. Im Grunde war ich ein hoffnungsloser Fall. Ich sprach nicht nur leise, fehlte ständig in der Schule, kaufte keine Sparmarken und tauchte gelegentlich in Kleinmädchen-Caprihosen auf, sondern ich kam auch eindeutig aus einem bolschewistischen Haus. Den Rest meiner Grundschulzeit verbrachte ich mehr oder weniger in der Garderobe.
IX
Die arbeitende Bevölkerung
In Washington, DC, sagte der bewaffnete Kriminelle John A. Kendrick aus, man habe ihm für den Mord an Michael Lee 2500 Dollar angeboten, er habe den Job aber abgelehnt, weil »wenn ich da drauf noch die Steuern bezahlt hätte, was wäre mir da geblieben?«
Time , 7. Januar 1953
Bild 14
W enn man einmal alle Jobs beiseitelässt, bei denen Menschen Fäkalien oder Erbrochenes ansehen, berühren oder sich sonstwie damit beschäftigen müssen – Kanalarbeiter und Bettpfannensaubermacher im Krankenhaus und so weiter – , war der Job eines Zeitungsjungen, der die Abendzeitungen austrug, in den 1950er- und 60er-Jahren vermutlich der schlimmste in der Geschichte der Menschheit. Zunächst einmal musste man diese Blätter an sechs Tagen in der Woche, von Montag bis Samstag, austragen und dann noch sonntags vor Morgengrauen aufstehen und die Sonntagszeitungen zustellen. Und zwar, damit die regulären Zeitungsboten einen Tag in der Woche frei hatten. Warum sie einen Ruhetag brauchten und wir nicht, war eine Frage, die sich – außer den Abendzeitungsjungs – offenbar nie jemand stellte.
Wie dem auch sei, als solcher Sieben-Tage-die-Woche-Fronknecht konnte man niemals Übernachtungbesuche oder was ähnlich Lustiges machen, ohne dass man jemanden fand, der die Tour für einen lief, und das bedeutete immer unendlich viel mehr Scherereien, als die Sache wert war, denn der Ersatzmann bediente unweigerlich die falschen Häuser, vergaß zu kommen oder verlor einfach auf halbem Wege das Interesse und stopfte die letzten dreißig Zeitungen in den großen Post-Briefkasten an der Ecke 37th Street/St John’s Road. Dann bekam man natürlich Ärger mit den Kunden, dem Vertriebsleiter des Register und der Tribune und der US-amerikanischen Postbehörde – und das alles nur, weil man nach 160 Tagen den ersten freien Tag hatte genießen wollen. Eine schreiende Ungerechtigkeit.
Ich fing mit elf als Zeitungsjunge an. Eigentlich bekam man erst nach seinem zwölften Geburtstag eine Tour, doch mein Vater, erpicht darauf, dass ich in der Welt vorankam und mir noch vor der Pubertät einen Leistenbruch zuzog, ließ bei der Zeitung seine Beziehungen spielen und besorgte mir schon früher eine Tour. Und zwar eine im reichsten Viertel der Stadt, um die Greenwood School herum, einen Bezirk, in dem es von weitläufigen, prächtigen Stadtvillen strotzte. 10 Es klang nach Traumjob und wurde mir auch von dem Tourenleiter Mr. Mc-Tivity, einem Mann mit geringer Moral und viel Körpergeruch, so präsentiert, doch Stadtvillen haben natürlich die längsten Auffahrten und die größten Rasenflächen, und es dauerte Minuten – in manchen Fällen viele, viele Minuten –, eine einzige Zeitung loszuwerden. Und damals wogen Abendzeitungen eine Tonne.
Außerdem war ich zerstreut. Schon damals lebte ich nicht immer in der realen Welt, doch das Zusammenwirken von langen Laufwegen, frischer Luft und Mangel an Abwechslung machte mich äußerst anfällig für alle möglichen Spintisierereien und Gedankenspiele. Zum Beispiel dachte ich manchmal eine klitzekleine Weile lang über die Bizarro World nach. Bizarro World war ein Planet, der in manchen Superman -Heften vorkam. Die Bewohner von Bizarro World machten alles verkehrt herum –
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