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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Welt, freundlich, hygienisch, heil, zu schön, um wahr zu sein. Nur eines war an den Dick-und-Jane-Büchern sehr komisch. Wann immer eine der Figuren sprach, klang sie nicht wie ein Mensch.
    »Hier sind wir auf dem Bauernhof«, sagte Vater zum Beispiel, als er (nicht zufällig im braunen Anzug) aus dem Auto sprang und dann ein wenig roboterhaft hinzufügte: »Hallo, Großmutter. Hier sind wir auf dem Bauernhof.«
    »Hallo«, erwiderte Großmutter. »Schaut, wer da ist. Es ist meine Familie. Schaut, schaut! Hier ist meine Familie.«
    »Ah, schaut! Hier sind wir auf dem Bauernhof«, sagte auch Dick, nicht minder erstaunt, sich in ländlicher Umgebung wiederzufinden, wo Verwandte wohnten. Auch bei ihm war die Nadel im Hirn offenbar hängen geblieben. »Hier sind wir auf dem Bauernhof«, fuhr er fort. »Hier ist auch Großvater! Hier sind wir auf dem Bauernhof.«
    Und so war es auf jeder Seite. Alle redeten wie gehirnamputiert. Mich verstörte es nachhaltig. Denn in dieser Phase meines Lebens stand ich besonders unter dem Einfluss des Furcht erregenden Films Die Dämonischen , den ich sehr überzeugend fand, ja mehr oder weniger für real hielt. Etwa drei Jahre lang beobachte ich mit Adleraugen, ob meine Eltern irgendwelche verräterischen Anzeichen zeigten, dass sie von außerirdischen Lebensformen übernommen worden waren, musste aber schließlich einsehen, dass ich es ohnehin nicht hätte erkennen können, ja, dass eigentlich der erste Hinweis darauf, dass sie sich in Schotenmenschen verwandelten, darin bestanden hätte, dass sie normaler wurden. Ich fragte mich allerdings auch lange, ob die Familie von Dick und Jane (na, eigentlich die Schöpfer der Familie von Dick and Jane; so dämlich war ich nun auch wieder nicht) gekapert worden war und nun versuchte, uns auf ein Verschoten vorzubereiten. Denkbar wäre es gewesen.
    Ich liebte die Dick-und-Jane-Bücher so sehr, dass ich sie mit nach Hause nahm und behielt. (In der Garderobe gab es ganze Stapel überzähliger Exemplare.) Ich habe sie heute noch und schaue sie von Zeit zu Zeit an. Und bin immer noch auf der Suche nach einer Familie, die gemeinsam versucht, ihre Zehen anzufassen.
    Als ich die Dick-und-Jane-Bücher erst einmal zu Hause hatte und sie bei einer Schüssel Eiskrem oder mit halbem Auge auf dem Fernseher in aller Ruhe lesen konnte, sah ich keine große Notwendigkeit mehr, zur Schule zu gehen. Und ging auch nicht mehr oft. In der zweiten Klasse verweigerte ich mich schon routinemäßig den inständigen Bitten meiner Mutter morgens aufzustehen. Sie ärgerte sich zwar immer so sehr, dass sie zwei schwere Seufzer und ein paar wortlose Unmutslaute ausstieß – wütender wurde sie einfach nicht –, doch ich begriff schon sehr früh, dass ich nur vollkommen schlaff und reglos liegen bleiben, eine nassersackartige Unwilligkeit zur Kooperation zeigen und mich von Zeit zu Zeit ein wenig rühren und murmeln musste, mir sei speiübel und ich brauchte Ruhe, und sie würde zum Schluss resigniert weggehen und sagen: »Dein Dad wäre wütend , wenn er jetzt hier wäre.«
    Aber er war nicht hier. Er war in Iowa City oder Columbus oder in San Francisco oder Sarasota. Er war immer irgendwo. Folglich erfuhr er von diesen Vorkommnissen zweimal im Jahr, wenn ich ihm mein Zeugnis zum Lesen und Unterschreiben gab. Das waren dann allerdings stets Situationen, in denen meine Mutter ebenso Ärger bekam wie ich.
    »Wie kann er 26¼ fehlende Tage in einem Halbjahr haben?«, sagte er traurig und entsetzt. »Und, wenn man es recht bedenkt, wie kriegt man einen Viertel-Fehltag hin?« Dann schaute er meine Mutter noch trauriger und entsetzer an. »Schickst du manchmal nur ein Stück von ihm zur Schule? Behältst du seine Beine zu Hause?«
    Meine Mutter reagierte immer mit kleinen gereizten Lauten, sagte aber eigentlich nichts Verständliches.
    »Ich kapier’s nicht«, fuhr mein Vater fort und starrte das Zeugnis an, als handle es sich um eine Rechnung für völlig unbegründete Schadenersatzforderungen. »Das ist gar nicht mehr witzig. Und die einzige Lösung, glaube ich nun wirklich, ist die Militärakademie.«
    Mein Vater war von der besonderen Schulform der military academy eigenartig und zutiefst angezogen. Die Vorstellung von permanenter, systematischer Strafe sprach eine gewisse dunkle Seite seines Charakters an. Auf den letzten Seiten der National Geographic warb eine große Anzahl dieser Institutionen mit Anzeigen – warum dort, entzieht sich meiner Kenntnis –, und ich

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