Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
sie gingen rückwärts, fuhren rückwärts, stellten den Fernseher aus, wenn sie gucken, und an, wenn sie nicht gucken wollten, fuhren bei Rot und hielten bei Grün und so weiter. Bizarro World ließ mir keine Ruhe, weil es so wahnsinnig widersprüchlich war. Die Leute sprachen zum Beispiel nicht von hinten nach vorn, sondern redeten in Höhlenmenschensprache »Ich nicht mag er«, was beileibe nicht das Gleiche wie rückwärts war. Aber wie sollte Rückwärtsleben überhaupt funktionieren? Wenn man an der Tankstelle Benzin aus den Autos herausholte statt einfüllte – wie konnten die Autos dann fahren? Essen hätte bedeuten müssen, Kacke in den Anus zu saugen, durch den Körper zu schicken und in mundgroßen Klumpen auf Gabel und Löffel wieder auszuspucken. Also, das haute ja wohl im wahrsten Sinne des Wortes hinten und vorne nicht hin.
Wenn ich das Thema erschöpft hatte, widmete ich mich im Allgemeinen längere Zeit »Was, wenn«-Fragen. Was ich tun würde, wenn ich mich unsichtbar machen könnte (zur Badezeit in Mary O’Learys Haus gehen), oder wenn die Zeit anhalten würde und ich das einzige Wesen auf Erden wäre, das sich noch bewegen könnte (eine Menge Geld aus einer Bank holen und dann zu Mary O’Learys Haus gehen), oder wenn ich alle Menschen auf der Welt hypnotisieren könnte (dito) oder eine Wunderlampe fände und zwei Wünsche frei hätte (dito), oder was weiß ich sonst noch alles. Alle Fantasien führten letztendlich zu Mary O’Leary.
Dann beschäftigte ich mich manchmal mit Dingen, auf die es keine klare Antwort geben konnte. Woher wissen wir, dass wir alle dieselben Farben sehen? Vielleicht sehen Sie das, was ich als grün sehe, als blau. Wer kann das mit Sicherheit sagen? Und wenn die Wissenschaftler behaupten, Hunde und Katzen seien farbenblind (oder nicht – ich konnte nie behalten, was nun), woher wissen sie es denn? Welcher Hund erzählt es ihnen? Woher wissen Zugvögel, wem sie folgen sollen? Was, wenn der Leitvogel einfach nur mal allein sein will? Und wenn man zwei Ameisen sieht, die aufeinander zulaufen, stehen bleiben und sich abtasten – was für Informationen tauschen sie da aus? – »Hey, hübsche Fühler!«, »Keine Panik, aber der Junge, der uns beobachtet, hat Streichhölzer und Feuerzeugbenzin« –, und woher wissen sie, was sie tun sollen – egal, in welcher Situation. Etwas sagt ihnen doch, loszumarschieren und ein Blatt oder ein Sandkörnchen mit nach Hause zu nehmen – aber wer und wie?
Bei diesen und ähnlichen Überlegungen merkte ich meist urplötzlich, dass ich mich an keines der letzten 47 Anwesen erinnern konnte, die ich aufgesucht hatte, und nun nicht wusste, ob ich eine Zeitung dort gelassen hatte oder nur zur Tür gelatscht, dort einen Moment wie ein schlecht funktionierender Automat stehengeblieben war, mich umgedreht hatte und wieder abgezogen war.
Es ist nicht leicht, das Gefühl der Enttäuschung von sich selbst zu beschreiben, das sich ausbreitet, wenn man das Ende der Tour erreicht hat und feststellt, daß man 16 nicht zugestellte Zeitungen in der Tasche und keinen blassen Dunst, absolut keinen, hat, wer sie hätte bekommen müssen. Ich verbrachte einen Großteil der Jahre meines Heranwachsens damit, zuerst eine unendlich lange Zustelltour zu laufen und dann große Teile davon noch einmal. Und manchmal sogar ein drittes Mal.
Als sei sieben Tage die Woche Zeitungen Austragen nicht genug, musste man auch noch das Abo-Geld einkassieren. An mindestens drei Abenden in der Woche ging man also, statt die Füße hochzulegen und Combat oder The Outer Limits zu schauen, noch einmal raus und versuchte, undankbaren Kunden ein bisschen Geld abzuschwatzen. Das war bei weitem am schlimmsten. Und das Allerschlimmste vom Allerschlimmsten war, das Geld bei Mrs. Vandermeister einzutreiben.
Mrs. Vandermeister war 700 Jahre alt, womöglich 800, und dauerhaft an eine Aluminiumgehhilfe angeschlossen. Sie ging sehr gebeugt, war winzig klein, vergesslich, gletscherhaft langsam, interessant übelriechend, praktisch taub. Einmal am Tag tauchte sie aus ihrem Haus auf, um in einem Auto von der Größe eines Flugzeugträgers in den Supermarkt zu fahren. Von ihrem Haus ins Auto brauchte sie zwei Stunden und dann noch einmal zwei, um das Auto aus der Einfahrt auf die Straße zu kriegen. Das lag einerseits daran, dass sie nie einen Gang fand, der ihr genehm war, und andererseits, dass sie sich beim Vor- und Zurückmanövrieren nie mehr als einen knappen Zentimeter auf einmal
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