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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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stellte oft fest, dass er diese Seiten mit einem Lesezeichen versehen hatte. In den Anzeigen sah man immer einen verstört dreinschauenden Schuljungen in grauer Soldatenkluft, ein viel zu großes Gewehr auf der Schulter und darüber die Botschaft, die etwa lautete:
    Militärakademie mit allen Schikanen eines Lagers
WIR LEHREN JUNGS ZU TÖTEN – SEIT 1867
Spezialität: Charakterbildung und Austreibung von
Waschlappeneigenschaften
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Postfach 1
Hähnchenmagen, Tennessee

    Es wurde nie was draus. Mein Vater bestellte eine Broschüre – er war ein fanatischer Sammler von Gratisbroschüren und -katalogen aller Art – und stellte fest, dass die Gebühren so hoch wie der Preis für einen Austin-Healey-Sportwagen oder eine Reise nach Europa waren, und dann ließ er den ganzen Plan fallen wie eine heiße Kartoffel. Ich wiederum fand Militärakademien so übel nicht. Die Vorstellung, in einer Schule zu sein, in der Gewehre, Bajonette und Sprengstoffe den Kern des Lehrplans bildeten, besaß ihre Reize.
    Einmal im Monat hatten wir eine Luftschutzübung in der Schule. Dann ertönte eine Sirene – eine besonders eindringliche Sirene, die zum Ausdruck brachte, dass es sich hier nicht um einen Probe-Feueralarm oder eine Sturmwarnung handelte, sondern um einen Atombombenangriff von Agenten der dunklen Mächte des Kommunismus –, und alle krabbelten von ihren Plätzen und krochen unter die Tische, die Hände über dem Kopf gefaltet; das war die Schutzhaltung bei nuklearen Angriffen. Ich muss mehrfach gefehlt haben, denn als das erste Mal die Sirene während meiner Anwesenheit ertönte, hatte ich keinen blassen Schimmer, was los war, und blieb fasziniert auf meinem Platz sitzen, als sich alle um mich herum zu Boden warfen und wie kleine Autos unter ihren Tischen parkten.
    »Was ist los?«, fragte ich Buddy Dobermans Hinterteil, denn das war alles, was von ihm noch zu sehen war.
    »Atombombenangriff«, erwiderte er mit leicht erstickter Stimme. »Aber keine Bange. Es ist wahrscheinlich nur eine Übung.«
    Ich weiß noch, wie bass erstaunt ich war, dass irgendjemand meinen konnte, ein kleiner Holztisch sei ein sicherer Zufluchtsort, falls eine Atombombe auf Des Moines herniederginge. Aber offenkundig nahmen alle die Sache ernst, denn auch die Lehrerin, Miss Kompakte Kleine Fettwalze, hatte sich unter ihr Pult gezwängt – zumindest so viel von sich, wie darunterpasste, nicht mal die Hälfte. Kaum hatte ich freilich begriffen, dass mich niemand beobachtete, beschloss ich, nicht teilzunehmen. Denn wie man unter einen Tisch kommt, wusste ich und war außerdem überzeugt, dass das keine Fähigkeit war, die jemals aufgefrischt werden musste. Und überhaupt, wie hoch standen die Chancen, dass die Sowjets Des Moines bombardieren würden? Also, bitte.
    Ein paar Wochen später ließ ich mich über diesen Punkt gegenüber meinem Vater aus, als wir bei einem unserer gelegentlichen Wochenendausflüge zusammen im Jefferson Hotel in Iowa City speisten. Er reagierte mit einem komischen Kichern und informierte mich, dass sich in Omaha, nur 80 Meilen westlich von Des Moines, das Hauptquartier des strategischen Luftkommandos befinde und im Kriegsfalle von dort aus alle US-amerikanischen Operationen geleitet würden. Das Hauptquartier würde von allem getroffen werden, was die Sowjets nur zur Hand hatten, natürlich einer ganzen Menge. Wir in Des Moines, erzählte mir mein Vater, würden – wenn der Wind von Westen kam – binnen 90 Minuten bis zur Halskrause in radioaktiver Strahlung stecken. »Du wärst noch vor dem Schlafengehen tot«, sagte er frohgemut. »Wir alle.«
    Ich weiß nicht, was ich beunruhigender fand – dass ich in einem Ausmaß, von dem ich nichts geahnt hatte, in ernster Gefahr war oder dass mein Vater die Aussicht auf unser Ableben amüsant fand –, so oder so aber bestätigte es mich in meiner Überzeugung, dass Atomkriegsübungen sinnlos seien. Das Leben war zu kurz, und wir wären ohnehin sofort alle tot. Besser man verbrachte seine Zeit damit, unter vielerlei Entschuldigungen, aber beharrlich Mary O’Learys knospende Brust zu berühren. Ich jedenfalls verweigerte mich den Übungen.
    Da traf es sich einen Hauch unglücklich, dass am Morgen meiner dritten oder vierten Übung Mrs. Unnatürlich Enormer Busen, die Direktorin, in Begleitung eines uniformierten Mannes von der Nationalgarde Iowas (Luftschutz) eine Inspektionstour durch die Schule machte und meiner ansichtig wurde, wie ich da

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