Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
begann Bußgelder zu erheben. Ich erhöhte die Zahlbeträge reicher Kunden um 50 oder 60 Cents und sagte ihnen, der Monat habe an einem Mittwoch begonnen und man müsse eine zusätzliche halbe Woche mit einberechnen. Auf ihrem Küchenkalender konnte man ihnen zeigen, dass am Anfang oder Ende des Monats ein paar weitere Tage waren, und das funktionierte immer, besonders bei Männern, die ein, zwei Cocktails getrunken hatten, und das hatten sie ja für gewöhnlich.
»Heiliges Kanonenrohr«, sagten sie und schüttelten verwundert den Kopf, während man ihr Extrageld einsackte.
»Wissen Sie, vielleicht zahlt Ihnen Ihr Chef nicht jeden Monat die richtige Summe«, sagte ich manchmal liebenswürdig.
»Ja – hey, ja! «, sagten sie dann und sahen richtig beunruhigt aus.
Die andere Gefahr bei reichen Leuten waren ihre Hunde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass arme Leute fiese Hunde haben und es wissen. Reiche Leute haben fiese Hunde und weigern sich, es zu glauben. Damals gab es ohnehin Tausende von Hunden, auf jedem Grundstück wohnte einer – große Hunde, grantige Hunde, dumme Hunde, klitzekleine, bissige lästige Flitzer, die man am allerliebsten in einen lebenden Hackysack verwandelt hätte, Hunde, die an einem riechen wollten, Hunde, die auf einem sitzen wollten, Hunde, die alles anbellten, was sich bewegte. Und es gab Dewey. Dewey war ein schwarzer Labrador und gehörte einer Familie namens Haldeman im Terrace Drive. Dewey war ungefähr so groß wie ein Schwarzbär und hasste mich. Bei allen anderen Menschen war er ein großes, weiches sabberndes Bündel. Doch mich wollte er aus Gründen, die er nicht enthüllte und wahrscheinlich auch selbst nicht kannte, nicht lebendig, sondern tot sehen. Er hatte was gegen mich und damit basta. Die Haldemans wiesen die Vorstellung, dass Dewey fies sein könne, lachend von sich und hörten heiteren Sinnes auch auf keinerlei Vorschläge, wie zum Beispiel, dass er angekettet sein sollte, wie es von Gesetzes wegen eigentlich erforderlich war. Sie waren Republikaner – Nixon-Republikaner – und deshalb nicht der Meinung, dass Gesetze für alle Menschen gleich gelten.
Ich hatte besondere Angst vor den Sonntagmorgen, wenn es dunkel war, denn Dewey war schwarz und bis auf seine Zähne unsichtbar, und nur er und ich trafen aufeinander, während alle anderen schliefen. Dewey schlief, wo immer ihn Bewusstlosigkeit übermannte, manchmal auf der vorderen Veranda, manchmal auf der hinteren, manchmal in einem alten Zwinger neben der Garage, manchmal auf dem Weg, aber immer draußen. Er war also stets da und stets angriffsbereit. Ich brauchte immer Stunden, um mit angehaltenem Atem den vorderen Eingang und die fünf breiten, stets quietschbereiten Holzstufen zur überdachten Tür der Haldemans hinaufzuschleichen und ganz, ganz leise die Zeitung auf die Matte zu legen, immer gewärtig, dass ich im Moment, in dem ich das tat, von irgendwo aus der Nähe ein tiefes, dunkles, drohendes Knurren hören, aber das dazugehörige Tier nicht sehen konnte. Das Knurren währte so lange, bis ich mich, im Rückwärtsgang verzogen hatte, nicht ohne mich in einem fort respektvoll zu verbeugen. Hin und wieder – eben genauso oft, dass ich ewig in Angst und Panik war – kam Dewey, bösartig bellend, angestürmt, und ich musste, wimmernd und die Hände schützend über mein Hinterteil gelegt, quer über den Hof rasen, auf mein Fahrrad springen und wie wild von dannen radeln, wobei ich gegen Hydranten und Laternenpfähle krachte und meist viel schlimmere Verletzungen davontrug, als wenn ich zugelassen hätte, dass Dewey mich zu Boden warf und ein Weilchen an mir herumknusperte.
Das Ganze war zu schrecklich, um es in Worte zu fassen. Schlimmer, als angegriffen zu werden, war eigentlich nur, auf den nächsten Angriff zu warten , und positiv war einzig die überwältigende Erleichterung, wenn es vorüber war, wenn ich wusste, dass ich Dewey in den nächsten 24 Stunden nicht wieder begegnen musste. Bomberpiloten, die von einem gefährlichen Einsatz zurückkehren, kennen das Gefühl.
Eines knackig kalten, glitzernden Märzmorgens ging ich derart erleichtert meines Weges und brachte eine Zeitung zu einem Haus ein Stück weiter, als Dewey – plötzlich doppelt so groß wie sonst und mit nun erst recht unbegründeter Aggressivität – im Affenzahn um McManuses Haus hinter mir herkam. Ich weiß noch, dass ich in der Tausendstelsekunde, die mir zum Denken blieb, dachte, wie unfair das mal wieder sei. Es war nicht
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