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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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die US Savings Stamps eingesammelt, und jedes Kind im Klassenzimmer außer mir langte sofort in sein Pult oder seine Schultasche, holte einen weißen Umschlag mit Geld heraus und stellte sich in einer Schlange vor dem Lehrerpult auf. Für mich war es jede Woche ein Wunder, dass alle anderen Schüler nicht nur wussten , an welchem Tag sie das Geld mitbringen sollten, sondern sich obendrein auch noch daran erinnerten . Derartig auf Zack zu sein, war von einem Bryson zu viel verlangt.
    In einem Jahr hatte ich vier Marken in meinem Buch (zwei davon verkehrt herum eingeklebt), in allen anderen Jahren keine. Meine Mutter und ich hatten beide zusammen kein einziges Mal daran gedacht. Die Butter-Jungs hatten mehr Marken als ich. Jedes Jahr hielt die Lehrerin mein jämmerlich nacktes Büchlein hoch, um meinen Mitschülern zu zeigen, wie jemand sein Land im Stich ließ, und alle lachten – das eigenartige wiehernde Lachen, das man nur hört, wenn Erwachsene Kinder auffordern, sich auf Kosten eines anderen Kindes zu amüsieren. Es ist das grausamste Lachen der Welt.

    Trotz dieser selbstverschuldeten Härten gefiel mir die Schule nicht schlecht, besonders das Lesen. Wir lernten es mit Dick-und-Jane-Büchern, soliden, in strapazierfähiges rotes oder blaues Leinen gebundenen Büchern. Darin gab es kurze Sätze in großen Buchstaben und hübsche Aquarellzeichnungen mit einer glücklichen, wohlhabenden, gut aussehenden, gesetzestreuen, doch interessant seltsamen Familie. In den Dick-und Jane-Büchern hieß Vater immer Vater, niemals Vati oder Papa, und trug immer einen Anzug, sogar sonntagmittags zum Essen – ja sogar, wenn die Familie zu einem Ausflug zu Großvaters und Großmutters Farm fuhr. Mutter war immer Mutter. Sie hatte stets alles im Griff und machte mit ihrer sauberen Rüschenschürze einen sehr gepflegten Eindruck. Die Familie hatte keinen Familiennamen. Sie wohnte in einer netten Straße in einem hübschen Haus mit Palisadenzaun, hatte aber kein Radio, keinen Fernseher und kein Klo im Badezimmer. (Probleme mit groß und klein gab es in diesem Hause also nicht.) Die Kinder – Dick, Jane und die kleine Sally – besaßen nur die schlichtesten Spielsachen, einen Ball, einen Bollerwagen, einen Drachen zum Fliegenlassen und ein Holzsegelschiff.
    Niemals schrie einer oder blutete oder weinte hemmungslos. Niemals brannte Essen an, wurden Getränke verschüttet (oder machten betrunken). Es sammelte sich kein Staub an. Immer schien die Sonne. Der Hund machte nie auf den Rasen. Es gab keine Atombomben, keine Butter-Jungs, keine Zikadenkiller. Alle waren stets sauber, gesund, stark, zuverlässig, hart arbeitend, US-Amerikaner und weiß.
    Jede Dick-und-Jane-Geschichte enthielt eine schlichte, aber wichtige Lektion – achte deine Eltern, lerne zu teilen, sei höflich, ehrlich, hilfreich und vor allem: arbeite hart. »Arbeit« war das 18. neue Wort, das wir lernten – so nachzulesen in einem Buch über die fünziger Jahre, Growing Up with Dick and Jane von Carole Kismaric und Marvin Heiferman. Erstaunlich, dass das Wort so spät kam. In unserer Welt arbeitete man doch von Anfang an.
    Ich fand die Familie von Dick und Jane hinreißend. Sie waren wunderbar, faszinierend anders als meine Familie. Ich erinnere mich besonders an eine Illustration, in der alle Mitglieder der Dick-und-Jane-Familie zum Spaß auf einem Bein stehen, das andere gerade ausstrecken und versuchen, sich an einen Zeh des ausgestreckten Fußes zu fassen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und umzufallen. Sie amüsieren sich königlich. Ich konnte das Bild noch so lange betrachten, doch mir war klar, dass man unter keinen Umständen – auch nicht mit vorgehaltener Waffe –, die Mitglieder meiner Familie dazu hätte bringen können, dergleichen gemeinsam zu versuchen.
    Weil an der Greenwood-Schule unsere Dick-und-Jane-Bücher zehn, fünfzehn Jahre alt waren, bildeten sie eine untergegangene Welt ab. Autos und Busse waren altmodisch und solche Läden, in denen die Familie einkaufte, gab es nicht mehr – Tierhandlungen mit Welpen im Schaufenster, Spielzeugläden mit Holzspielsachen, Lebensmittelläden, in denen ein fröhlicher Mann mit weißer Schürze die Waren einzeln herbeiholte. Ich fand das alles bezaubernd. In Dicks und Janes Welt gab es keinen Schmutz und keinen Schmerz. Sie gingen sogar in Großvaters stinkenden Hühnerstall, ohne zu würgen und in Panik zu geraten, wenn sie an einem Klecks Hühnerdreck festklebten. Eine wunderbare Welt, eine perfekte

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