Mein erfundenes Land
darin, daß man jeden hereinbittet, der unangemeldet vorbeischaut, oder miteinander teilt, was man hat. Kommen Sie nicht auf den Gedanken, jemandem ein Kompliment über ein Kleidungsstück zu machen, denn sicher zieht er es aus, um es Ihnen zu schenken. Bleibt bei Tisch etwas übrig, gebietet es der Anstand, daß man es den Gästen mitgibt, die auch nie mit leeren Händen zu Besuch kommen sollten.
Die Gastfreundlichkeit der Chilenen ist überhaupt augenfällig: Die kleinste Andeutung genügt, und wir öffnen unsere Arme und die Türen unserer Häuser. Viele Ausländer erzählen, daß sie jemanden nach dem Weg fragten und dann von dem Angesprochenen persönlich hingebracht wurden, und falls man sehr verloren wirkt, kann es vorkommen, daß einen der Betreffende kurzerhand zu sich nach Hause einlädt und einem Essen und notfalls sogar eine Bettstatt anbietet. Ich muß allerdings zugeben, daß meine Familie nicht besonders freundlich war. Einer meiner Onkel duldete es nicht, daß jemand in seiner Nähe atmete, und mein Großvater ging mit dem Stock auf das Telefon los, weil er es als Mangel an Respekt empfand, wenn ihn jemand ohne sein Einverständnis anrief. Er lag mit dem Briefträger über Kreuz, weil der ihm Post brachte, um die er nicht gebeten hatte, und öffnete keine Briefe, deren Absender nicht sichtbar auf dem Umschlag prangte. Meine Verwandtschaftfühlte sich dem Rest der Menschheit überlegen, wobei mir die Gründe schleierhaft sind. Nach der Denkschule meines Großvaters konnten wir nur unseren nahen Verwandten vertrauen, der Rest der Menschheit war verdächtig. Der Mann war glühender Katholik, jedoch ein Feind der Beichte, weil die Priester sein Mißtrauen weckten und er überzeugt war, er könne sich selbst mit Gott über die Vergebung seiner Sünden verständigen. Und die seiner Frau und seiner Kinder in einem Aufwasch zur Sprache bringen. Diesem unerklärlichen Höherwertigkeitskomplex zum Trotz wurden Gäste, wie gewöhnlich sie auch sein mochten, bei uns immer gut aufgenommen. In dieser Hinsicht ähneln die Chilenen den arabischen Wüstenbewohnern: Der Gast ist heilig, und Freundschaft ist, einmal erklärt, ein unauflösliches Band.
Wer eine Wohnung, ob reich oder arm, betritt, muß bereit sein, etwas zu essen oder zu trinken anzunehmen, und sei es auch nur ein »Teechen«. Auch das ist Sitte bei uns. Da Kaffee immer rar und teuer war – selbst Nescafé war ein Luxus –, tranken wir mehr Tee als die Bevölkerung Asiens, aber auf meiner letzten Reise habe ich mit Entzücken festgestellt, daß endlich die Kaffeekultur Einzug gehalten hat und inzwischen jeder, der ihn zu zahlen bereit ist, Espresso und Cappuccino wie in Italien bekommen kann. Zur Beruhigung potentieller Touristen sollte ich außerdem erwähnen, daß die öffentlichen Toiletten tadellos sind und man überall Wasser in Flaschen bekommt; es ist also nicht mehr wie früher unvermeidlich, daß einen nach dem ersten Schluck Wasser der Durchfall plagt. Ein wenig bedauere ich das, denn wer mit chilenischem Wasser groß geworden ist, dem kann kein Bakterium, ob von nah oder fern, etwas anhaben; ich kann ohne sichtbare Auswirkung auf meine Gesundheit Wasser aus dem Ganges trinken, dagegen braucht sich mein Mann nur einmal außerhalb der Vereinigten Staaten die Zähne zu putzen, und schon geht’s ihm schlecht.Mit Tee sind wir in Chile nicht etepetete und finden jede dunkle Brühe mit etwas Zucker köstlich. Außerdem gibt es unzählige heimische Kräuter, denen Heilkräfte zugeschrieben werden, und wenn einer wirklich gar nichts hat, bleibt immer noch das »Hundewässerchen«, was einfach heißes Wasser in einer Tasse mit angestoßenem Rand ist. Als erstes bieten wir dem Gast ein »Teechen«, ein »Wässerchen« oder ein »Weinchen« an. Wir reden in Diminutiven, die angemessene Form, wenn man nicht auffallen will und Angeberei fürchterlich findet, selbst sprachliche. Danach offerieren wir »was der Topf beschieden hat«, was bedeuten kann, daß die Gastgeberin ihren Kindern das Stück Brot aus der Hand nimmt, um es dem Besuch zu geben, der es annehmen muß. Ist man ausdrücklich eingeladen worden, darf man ein überreiches Bankett erwarten; es soll sichergestellt werden, daß die Tischgäste in den nächsten Tagen keinen Bissen mehr runterkriegen. Die undankbaren Aufgaben der Bewirtung sind natürlich Frauensache. Zur Zeit ist der kochende Mann en vogue, eine Heimsuchung, denn während er die Lorbeeren einheimst, ist die Frau mit Bergen
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