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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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erst einen Beweis dafür verlangen, daß man geboren ist, nicht im Gefängnis sitzt, seine Steuern bezahlt hat, sich in die Wählerlisten hat eintragen lassen und nicht verstorben ist, denn auch wer mit den Füßen stampft, um zu zeigen, daß er noch lebt, muß ein »Überlebenszertifikat« vorweisen. Welche Ausmaße muß das angenommen haben, wenn die Regierung ein Büro zur Bekämpfung der Bürokratie eingerichtet hat? Dort können sich die Bürger jetzt über ungebührliche Behandlung und unfähige Beamte beschweren… selbstverständlich auf gestempelten Papieren in dreifacher Ausfertigung. Als wir kürzlich in einem Reisebus hinüber nach Argentinien wollten, mußten wir anderthalb Stunden warten, bis die Pässe kontrolliert waren. Zu Zeiten der Berliner Mauer in den Osten zu reisen war einfacher. Kafka war Chilene.
    Ich glaube, unsere Leidenschaft für Regeln ist eine Art Versicherung gegen die Aggressionen, die wir in uns tragen; ohne die Würgschraube des Gesetzes würden wir mit Knüppeln aufeinander losgehen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß wir zu jedweder Barbarei fähig sind, wenn uns die Zügelaus der Hand gleiten, daher sind wir auf der Hut und verschanzen uns hinter Stapeln gestempelter Papiere. Wir gehen Konfrontationen möglichst aus dem Weg, suchen den Konsens und stellen Entscheidungen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Wahl. Wir wählen gern. Wenn sich ein paar Dreikäsehochs zum Fußballspielen auf dem Schulhof treffen, schreiben sie als erstes die Regeln auf und wählen einen Präsidenten, einen Sprecher und einen Schatzmeister. Was beileibe nicht heißen soll, daß wir tolerant wären: Wir verbeißen uns wie manisch in unsere Ideen (ich bin ein Paradebeispiel). Die Intoleranz zeigt sich überall, in der Religion, der Politik, der Kultur. Wer immer es wagt, anderer Meinung zu sein, wird mit Dreck beworfen oder lächerlich gemacht, sofern man ihn nicht mit drastischeren Mitteln zum Schweigen bringen kann.
    An unseren Gepflogenheiten halten wir fest, darin sind wir konservativ und traditionalistisch und ziehen das bekannte Übel dem kennenzulernenden Guten vor, aber ansonsten sind wir beständig auf der Jagd nach Neuem. Wir meinen, alles, was aus dem Ausland kommt, sei naturgegeben besser als das unsere und wir müßten es ausprobieren, angefangen beim letzten elektronischen Schnickschnack bis hin zu politischen oder ökonomischen Systemen. Einen großen Teil des 20. Jahrhunderts haben wir damit verbracht, verschiedene Arten von Revolutionen zu testen, haben vom Ultramarxismus zum Turbokapitalismus gewechselt und sämtliche Abstufungen durchlaufen. Die Hoffnung, durch einen Regierungswechsel werde unser Los sich ändern, ist ungefähr so begründet wie die auf einen Hauptgewinn in der Lotterie. Rational ist das nicht. Im Grunde wissen wir nur zu gut, daß das Leben nicht einfach ist. Chile ist ein Erdbebenland, wie sollten wir da nicht fatalistisch sein. Und wie die Dinge liegen, müssen wir auch ein wenig stoisch sein, aber die Würde dabei wahren, das müssen wir nicht, wir dürfen uns nach Herzenslust beklagen.
    Meine Familie war, glaube ich, gleichermaßen spartanisch wie stoisch. Mein Großvater predigte, ein leichtes Leben verursache Krebs, alles Unkommode dagegen fördere die Gesundheit. Er empfahl kalte Duschen, schwer zu kauendes Essen, Matratzen mit harten Klumpen, die ungepolsterten Bänke der dritten Klasse im Zug und klobige Schuhe. Seine Theorie von der gesunden Unkommodheit wurde von verschiedenen englischen Schulen unterstützt, in denen mich das Schicksal einen großen Teil meiner Jugend verbringen ließ. Wer eine solche Erziehung überlebt, ist später für die unbedeutendsten Freuden dankbar. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die ein stilles Dankgebet murmelt, wenn warmes Wasser aus dem Hahn kommt. Ich erwarte, daß das Dasein problematisch ist, und wenn ich über Tage weder Kummer noch Sorgen habe, werde ich unruhig, weil das nur bedeuten kann, daß der Himmel ein größeres Ungemach für mich zusammenbraut. Dennoch bin ich nicht vollkommen neurotisch, im Gegenteil. Man kann gut mit mir auskommen. Ich bin genügsam, im allgemeinen reicht ein Strahl heißes Wasser aus dem Hahn, um mich glücklich zu machen.
    Es heißt oft, wir seien Neidhammel, weil wir uns über anderer Leute Erfolg ärgern. Letzteres stimmt, aber der Grund ist nicht Neid, sondern gesunder Menschenverstand: Erfolg ist anormal. Der Mensch ist biologisch für den Mißerfolg gemacht, das sieht man schon

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