Mein erfundenes Land
daran, daß er Beine anstelle von Rädern, Ellbogen statt Flügel und einen Stoffwechsel anstelle von Batterien besitzt. Wozu vom Erfolg träumen, wenn wir ruhig in unserem Scheitern dahindämmern können? Wozu heute tun, was sich auf morgen verschieben läßt? Oder etwas gut machen, wenn es auch so lala geht? Wir können es nicht ausstehen, wenn ein Landsmann aus der Masse hervorsticht, es sei denn, er tut es im Ausland, wodurch er sich umgehend in eine Art Nationalheld verwandelt. Der heimische Triumphator dagegen kommt ganzschlecht an; im Nu sind sich alle stillschweigend einig, daß man ihn von seinem hohen Roß holen muß. Auch für diesen Volkssport haben wir ein Wort, das »Jackenhakeln«: den Nächsten an der Jacke packen und nach unten ziehen. Trotz »Jackenhakeln« und allgemeinem Mittelmaß gelingt es zuweilen jemandem, das Haupt über Normalnull zu erheben. Unser Land hat außergewöhnliche Männer und Frauen hervorgebracht: die beiden Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda und Gabriela Mistral, die Liedermacher Víctor Lara und Violeta Parra, den Pianisten Claudio Arrau, den Maler Roberto Matta, den Romancier José Donoso, um nur einige zu nennen.
Wir Chilenen finden Gefallen an Beerdigungen, weil uns der Tote keine Konkurrenz mehr machen oder uns hinter unserem Rücken »rupfen« kann. Wir strömen nicht nur in Massen zur Beisetzung, wo man sich stundenlang die Beine in den Bauch steht, während man mindestens fünfzehn Reden lauscht, sondern begehen auch die Jahrestage des Verstorbenen. Außerdem hören und erzählen wir gerne Geschichten, je makabrer und trauriger, desto besser; darin – und in unserem Hang zum Schnaps – ähneln wir den Iren. Wir sind süchtig nach Telenovelas, weil das Unglück der Figuren einen guten Vorwand liefert, über eigenen Kummer zu weinen. Ich wuchs mit dramatischen Hörfunkserien auf, obwohl Großvater das Radio verboten hatte, das er für Teufelszeug hielt, mit dem Gerüchte und Unflat verbreitet wurden. Deshalb durchlitten Kinder und Dienstmädchen die nimmer endende Serie Das Recht der Geburt , die, wenn mich nicht alles täuscht, über mehrere Jahre lief, in der Küche.
Was die Helden im Fernsehen erleben, ist viel wichtiger als das, was in der eigenen Familie passiert, auch wenn man der Handlung zuweilen nur schwer folgen kann. Ein Beispiel: Der Galan verführt eine Frau und verläßt sie, als sie guter Hoffnung ist; dann vermählt er sich heimlich miteinem hinkenden Mädchen und läßt auch das auf ein »Wurm« warten, wie wir in Chile sagen, flieht aber wenig später zu seiner eigentlichen Ehefrau nach Italien. Trigamie nennt man das wohl. Unterdessen läßt sich die Hinkende am Bein operieren, geht zum Friseur, erbt ein Vermögen, wird zur Managerin eines großen Unternehmens und lockt neue Verehrer an. Als der Galan aus Italien zurückkehrt und dieses reiche Weib mit den beiden gleich langen Beinen sieht, bereut er seine Niedertracht. Und nun hat der Drehbuchautor ein Problem: Wie soll er diesen Altweiberdutt nur entwirren, in den sich seine Geschichte verwandelt hat? Zunächst muß die erste Verführte abtreiben, damit keine Bastarde bleiben, die im Fernsehkanal ziellos umherirren, dann muß er die unglückliche Italienerin umbringen, damit der Galan – der ja doch der Gute der Serie sein soll – rechtzeitig Witwer wird. Dadurch kann die Ex-Hinkende in Weiß vor den Traualtar treten, obwohl sie einen riesigen Bauch hat und binnen kürzester Zeit einem Kind das Leben schenkt: einem strammen Jungen, versteht sich. Keiner arbeitet, alle leben von Luft und Liebe, und die Frauen tragen schon zum Frühstück künstliche Wimpern und Cocktailkleider. Im Verlauf der Tragödie landen über kurz oder lang fast alle im Krankenhaus; es gibt Geburten, Unfälle, Vergewaltigungen, Drogensüchtige, Jugendliche, die von zu Hause oder aus dem Gefängnis ausreißen, Blinde, Verrückte, Reiche, die verarmen, und Arme, die zu Geld kommen. Es wird viel gelitten. War eine Folge besonders dramatisch, sind tags darauf wegen der Detailanalyse sämtliche Telefonleitungen des Landes belegt; meine Freundinnen aus Santiago melden R-Gespräche nach Kalifornien an, um mir davon zu erzählen. Gegen die letzte Folge einer Telenovela hätte bloß der Besuch des Papstes eine Chance, aber bisher war er nur einmal da, und es wird wohl keine Wiederholung geben.
Neben Beerdigungen, morbiden Geschichten und Telenovelas sorgen auch Verbrechen stets für interessantenGesprächsstoff. Wir haben
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