Mein erfundenes Land
eine Schwäche für Psychopathen und Mörder, erst recht, wenn sie der Oberschicht entstammen. »Für Verbrechen des Staates ist unser Gedächtnis kurz, die kleinen Sünden unserer Nächsten vergessen wir hingegen nie«, bemerkte einmal ein bekannter Journalist. Zu den aufsehenerregendsten Morden unserer Geschichte gehört der eines gewissen Herrn Barceló, der seine Frau tötete, nachdem er ihr schon jahrelang übel mitgespielt hatte, und der dann behauptete, es sei ein Unfall gewesen. Er habe sie umarmt, als sich ein Schuß löste, der sie in den Kopf traf. Warum er während der Umarmung mit einer geladenen Pistole auf ihren Nacken zielte, konnte er nicht erklären, und so führte seine Schwiegermutter einen Rachefeldzug für ihre unglückliche Tochter; ich kann es ihr nicht verdenken, ich hätte dasselbe getan. Jene Dame gehörte zur distinguierten Gesellschaft von Santiago und war es gewohnt, zu bekommen, was sie wollte: In einem Buch klagte sie ihren Schwiegersohn öffentlich an, und nachdem er zum Tode verurteilt worden war, suchte sie den Präsidenten der Republik auf und rührte sich nicht aus dessen Büro, um eine Begnadigung zu verhindern. Barceló wurde erschossen. Es war das erste und fast einzige Mal, daß ein Angehöriger der Oberschicht hingerichtet wurde, denn diese Strafe war für jene reserviert, die nicht über Verbindungen und gute Anwälte verfügten. Heute ist die Todesstrafe wie in jedem anständigen Land abgeschafft.
Für meine Romane waren mir all die Familienanekdoten meiner Kindheit nützlich, die meine Großeltern, meine Onkel und Tanten und meine Mutter erzählten. Was an ihnen Wahres dran ist? Einerlei. Wer sich erinnert, legt keinen Wert auf die nackten Tatsachen, die Legende genügt, wie etwa bei der traurigen Geschichte jenes Toten, der meiner Großmutter bei einer ihrer spiritistischen Sitzungen erschien und behauptete, unter der Treppe liege ein Schatz versteckt. Wegen eines Fehlers in den Plänen des Hauses oder wegen derBoshaftigkeit des Gespensts wurde der Schatz nie gefunden, obwohl man das halbe Haus in Trümmer legte. Ich habe versucht herauszufinden, wie und wann sich dieser bedauerliche Vorfall ereignete, aber in meiner Familie werden solche Dinge nicht dokumentiert, und wenn ich zu viele Fragen stelle, regen meine Verwandten sich auf.
Ich möchte hier nicht den Eindruck erwecken, wir hätten nur Fehler, wir besitzen durchaus auch Tugenden. Moment, mir fällt bestimmt gleich eine ein… Genau, wir sind beispielsweise ein Volk mit poetischer Seele. Dafür können wir nichts, das liegt an der Landschaft. Niemand, der in einer Natur wie der unseren geboren wird und lebt, kann es sich verkneifen, Verse zu schreiben. In Chile braucht man nur einen Stein anzuheben, und statt einer Eidechse kriecht ein Dichter oder Liedermacher darunter hervor. Wir bewundern und achten sie und ertragen ihre Allüren. Früher rezitierte das Volk auf politischen Kundgebungen lauthals die Verse von Pablo Neruda, die jeder auswendig konnte. Am besten gefielen uns seine Liebesgedichte, denn wir haben einen Hang zur Romantik. Und auch zur Tragik: Enttäuschung, Verzweiflung, Sehnsucht, Trauer; unsere Abende sind lang, vielleicht rührt daher unsere Vorliebe für schwermütige Themen. Wenn einem das Dichten nicht liegt, bleiben immer noch andere Arten der Kunst. Alle Frauen, die ich kenne, schreiben, malen, bildhauern oder widmen sich in ihren raren Mußestunden irgendeinem Kunsthandwerk. Die Kunst hat das Stricken ersetzt. Wegen der vielen geschenkten Bilder und Keramiken paßt mittlerweile unser Auto nicht mehr in die Garage.
Es sollte auch erwähnt werden, daß wir herzlich sind und mit Küssen nicht geizen. Erwachsene geben sich zur Begrüßung einen ehrlichen Kuß auf die rechte Wange, Kinder küssen die Großen zur Begrüßung und zum Abschied und reden sie außerdem wie in China respektvoll mit Onkel undTante an, auch die Lehrerinnen in der Grundschule. Alte Leute werden erbarmungslos geküßt, ob sie wollen oder nicht. Frauen küssen einander, selbst wenn sie sich nicht ausstehen können, und obendrein küssen sie jedes männliche Wesen, das in ihre Reichweite kommt, ohne sich von Alter, sozialer Schicht oder Hygiene abschrecken zu lassen. Nur Männer im fortpflanzungsfähigen Alter, also etwa zwischen vierzehn und siebzig, küssen sich nicht, ausgenommen Vater und Sohn, aber dafür tätscheln und umarmen sie sich, daß es eine Wonne ist. Die Herzlichkeit zeigt sich in vielen Dingen, auch
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