Mein Erzengel (German Edition)
wiederholten Mal ein. Seine Sprache wird immer undeutlicher. Mit glasigen Augen starrt er auf den Couchtisch. Er hat sich in diesen drei Monaten eine schützende Schicht Fett zugelegt, die Hose spannt um seine Oberschenkel. Aus seinem Ärmel ist ein Stück Stoff herausgerissen. Er drückt die Jacke fest an sich, obwohl es warm ist im Raum. Irgendwann steht er auf und geht mit schweren Schritten wortlos hinaus. Ruth bleibt sitzen wie gelähmt.
In der Nacht nimmt sie ihre Bettdecke und legt sich ins Wohnzimmer. Sie kann sein Schnarchen nicht ertragen.
4
Es wird Zeit, etwas zu unternehmen, sie wird sich anschauen, wo und wie Michaël sein Rettungswerk betreibt. Sein Hauptquartier ist das Hotel, nur so viel weiß sie. Und dass er ein Transitzentrum eingerichtet hat, für Flüchtlinge, die aus dem Kriegsgebiet fliehen konnten und nun im halbwegs sicheren Nachbarland auf ihre Ausreise in die Niederlande warten. Ruth steckt mitten in einem großen Auftrag, trotzdem nimmt sie sich ein paar Tage frei, zum Arbeiten ist sie zu unruhig. Vielleicht lässt sich dort, wo sein Leben heute stattfindet, ein Hauch der alten Nähe herstellen. Seine langen Abwesenheiten haben sie in einen Schockzustand versetzt, früher verbrachten sie kaum einen Tag ohne einander, sogar zur Bank und einkaufen gingen sie Hand in Hand.
Ruth fliegt mit Herrn Smit, einem von Michaëls freiwilligen Helfern. Er und seine Frau haben ein Ehepaar mit Kind in ihrem Einfamilienhaus aufgenommen. Smit steht wie sie in Michaëls Bann, nutzt jeden freien Augenblick, um ihm zu helfen, als Freiberufler kann er sich die Zeit einteilen. Schon oft ist er mit seinem mit Kleiderspenden bepackten Kleinbus hinuntergefahren und mit Flüchtlingen zurückgekehrt. Er und Ruth telefonieren mehrmals wöchentlich, immer findet er Zeit für ein paar freundliche Worte, einen Scherz. Mit ihm kann sie sogar über ihren Mann sprechen, Smit ist das Bindeglied zwischen ihnen beiden. Er ist ein kräftiger Mann mit einem Übermaß an Energie. Mit ihm zu reisen macht Spaß. Sie trinken Whisky, und er bringt Ruth zum Lachen. Die Beschäftigung mit Krieg und Vertreibung haben seiner guten Laune nichts anhaben können.
Bald wird Ruth Michaël sehen, sie ist neugierig auf seine Flüchtlingshelferwelt. Vielleicht kann sie sich beteiligen, sie kennt einige Feministinnen, die sich im Land um weibliche Flüchtlinge kümmern, die Hauptstadt ist voll von traumatisierten Frauen, die notdürftig in Zelten und Holzbaracken untergebracht sind.
Am Flughafen ein zerzauster und gestresster Michaël. Immerhin ringt er sich zu einer flüchtigen Umarmung durch, vielleicht weil Smit dabei ist. In seinem Toyota Previa mit den abgedunkelten Scheiben geht es zügig ins Stadtzentrum. Er kennt sich gut aus, bewegt sich so sicher, als wäre er hier zu Hause.
Im Hotel, dem besten, das zu finden ist, checkt Ruth ein. Hier wohnt und arbeitet Michaël. Smit wird noch heute eine kleine Flüchtlingsgruppe zurück in die Niederlande bringen. Sie nimmt sich ein Doppelzimmer, für alle Fälle. In der Lobby herrscht aufgekratzte Kriegsstimmung, die auch Ruth erregt, Ausnahmezustand. Wo einst Urlaubsgäste aus aller Welt abstiegen, wimmelt es jetzt von Soldaten und schwarzgekleideten Frauen mit eingefallenen Gesichtern. Irgendwie passen sie zusammen, die strammen, sich ihrer Bedeutung sicheren Soldaten in Tarnuniform und die gramgebeugten Frauen in Trauer. Touristen gibt es keine mehr.
Ruth und Smit warten an der Rezeption. Michaël kommt mit einer jungen Frau in einem altmodischen grauen Kostüm aus dem Aufzug gestürmt.
«Das ist Amira, meine Sekretärin und Dolmetscherin. Ohne sie wäre ich aufgeschmissen.»
Ruth drückt die knochige Hand dieser blassen Frau und schaut in zwei klare, kluge Augen. Sie ist selbst Flüchtling und hat in Siegen Germanistik studiert.
«Schnell, schnell», faucht Michaël, «wir müssen los.» Schon zwängt er sich durch die Drehtür. Die anderen folgen ihm gehorsam. Der Toyota parkt vor dem Hotel, obwohl hier eigentlich Parken verboten ist. Smit kauft einer Blumenverkäuferin zwei rote Rosen ab und überreicht sie im Wagen den beiden Frauen. Er und Ruth sind gut gelaunt, lächeln einander zu. «Wir sind hier nicht im Urlaub», schnauzt Michaël.
Es wird bedrückend still im Wagen. Ruth schaut ihren Mann erschrocken von der Seite an. So hat er noch nie mit ihr gesprochen. Grimmig starrt er auf die Straße. Sie dreht sich zu den anderen um. Amira hebt eine Augenbraue und verzieht ihren
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