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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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strahlenden Gesichter derer, die bald ins gelobte Land ausreisen werden, egal in welche Region, egal in welche Stadt, lassen das Grauen erahnen, dem sie entronnen sind. Die Probleme, die auf sie zukommen werden, sind ihnen vorläufig egal. «Es geht ums Überleben!», hat Michaël ein ums andere Mal zögernden Gastgebern ins Gewissen geredet.
    Unter enttäuschtem Gemurmel klappt er jetzt den Laptop zu, morgen wird er wiederkommen. Seiner Miene ist nichts zu entnehmen. Das ist nicht ihr Mann, mit dem sie während gemeinsamer Autofahrten so sehr ins Gespräch vertieft war, dass sie mehr als einmal die Autobahnausfahrt nach Amsterdam verpassten und Dutzende Kilometer weiterfahren mussten, ehe sie umkehren konnten. Das ist nicht mehr ihr Mann, der ihr schöngeformte Steine mitbrachte, wer weiß, wo er sie gefunden hat. Der, wenn er schon einmal schrieb, Sätze bildete, die glänzten wie geschliffener Kristall, klar und präzise. Und schon gar nicht ist er derjenige, der Tag für Tag vor ihrem Aufwachen den Küchenboden wischte. Er schüchtert sie ein, sie wagt nicht, ihn anzusehen. Es gibt keine Intimität mehr zwischen ihnen.
    Während er von den Abreisebereiten umringt wird, steht Ruth verlegen herum. Ein Mann zupft sie am Ärmel, drückt ihr einen Stapel Dokumente in die Hand, redet auf sie ein. Als Ehefrau wird sie für kompetent gehalten. Eine Frau zieht sie mit sich. Sie hat sich mit ihrer Familie mitten in diesem improvisierten Matratzenlager ein kleines Zuhause geschaffen, bunte Tücher über Querbalken gebreitet, um sich vor der Nähe der anderen zu schützen, Teppiche gibt es da, Plastikblumen. Sie bietet Ruth Kaffee und Kuchen an, streichelt ihre Hand. «Herr Verbeke guter Mann», wiederholt sie mehrmals. Ihr Mann kommt dazu, er spricht etwas Deutsch. Herr Verbeke sei für ihn wie Gott, sagt er. Er glaube an Gott und an Herrn Verbeke. An Herrn Verbeke aber ein bisschen mehr. Ruth stockt der Atem. Michaël gottgleich. Ein Erzengel. Der Bezwinger Satans.
    Im Hotel zeigt er ihr sein improvisiertes Büro. Auf dem Bett Dutzende Pässe, nach dem Alphabet geordnet. Wenn er schlafen geht, legt er sie in derselben Reihenfolge auf dem Teppichboden ab. Ruth überredet ihn, sich ein zweites Zimmer zum Schlafen zu nehmen.
    Am Abend gehen sie essen. Ruth ist glücklich, endlich allein mit ihm. Sie suchen sich einen Ecktisch aus. Nicht weit von ihnen sitzt eine Gruppe Frauen, eine davon ist mit Ruth bekannt, sie winken einander zu, morgen werden sie telefonieren. Am Frauentisch herrscht angeregte Stimmung, alle reden durcheinander, lachen. Michaël schaut feindselig, ja, hasserfüllt zu ihnen hinüber. Ruth schämt sich vor den Frauen für ihren Mann. Warum schaut er so böse? Darf man im Krieg nicht lachen?
    Sie bestellen Wein. Michaël trinkt hastig. In ihrem früheren Leben gingen sie sorgsam mit Wein um. Nie hatten sie mehr als eine Flasche im Haus, und wenn die leer war, warf Michaël sie immer gleich in den Glascontainer. Vor Ruth gab es eine Zeit, als Batterien leerer Zweiliterflaschen in seinem Zimmer herumstanden. Schon am Morgen fing er mit dem Trinken an. Als sie sich kennenlernten, hörte er von einem Tag auf den anderen damit auf, trank nur noch mit Zitrone aromatisiertes Mineralwasser. Nach ihrer Heirat fing er wieder an zu trinken, kontrolliert, unter ihrer Aufsicht. An das erste Glas Wein nach mehrmonatiger Abstinenz erinnert sie sich noch gut, sie prosteten einander zu, und seine Hände zitterten. Sie hatte keine Ahnung, welche Überwindung es ihn kostete, abends nicht mehr als eine halbe Flasche Wein zu trinken, sie hatte noch nie einen Alkoholiker gekannt.
    Wenn sich ein Konflikt zwischen ihnen abzeichnete, drohte Michaël manchmal, sich zu betrinken. Doch so weit ließen sie es nie kommen, es gelang ihnen stets, einen möglichen Streit im Keim zu ersticken. Was für Konflikte das waren, weiß sie nicht mehr, weil sie ja unverzüglich unterdrückt wurden. Alltagskram vermutlich, wie er eben vorkommt, wenn zwei Menschen das Leben miteinander teilen, vielleicht war Ruths gelegentliche Kritik an seiner Unnachgiebigkeit ein Problem, an seinem Hang, Freundschaften wegen Nichtigkeiten aufzugeben, oder es ging um sein Unbehagen über ihren leichtsinnigen Umgang mit Geld. Doch mit Michaël nahm jede Meinungsverschiedenheit den Charakter einer existenziellen Bedrohung an, löste in ihr die Panik aus, er könne jeden Moment aufstehen, gehen und nicht mehr wiederkommen. Weggehen und die Drohung, sich zu betrinken,

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