Mein Erzengel (German Edition)
Heike schlief noch ein paarmal mit Andrea, ehe beider Leben wieder den gewohnten heterosexuellen Verlauf nahm. Alle drei sind gute Freundinnen geblieben.
«Michaël hatte recht», sagt Ruth. «Damals waren wir mutig und neugierig und experimentierfreudig. Heute ist nichts davon übrig geblieben.»
«Ja», findet auch Heike, «wir leben in einer prüden Zeit, trotz der allgegenwärtigen Pornographie.»
In diesen Tagen mit Heike trifft Michaël Ruth mehrmals nicht zu Hause an, und seine Stimme auf dem Anrufbeantworter klingt gekränkt. Erwartet er tatsächlich, dass sie jederzeit für ihn verfügbar ist? Es würde nicht in sein Bild von ihr als emanzipierter Frau passen, ebenso wenig in das von sich selbst als einem, der als Mann kein Recht hat, Forderungen an eine Frau zu stellen. Aber so vieles passt in letzter Zeit nicht mehr zusammen. Keine drei Monate ist es her, und alle Koordinaten haben sich verschoben.
Ruth erinnert sich, dass Michaël immer von ihr erwartet hat, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, wenn einer von ihnen auf Reisen war, meistens war es sie selbst. In einem Jahr hatte sie mehrmals in Wien zu tun, war Mitorganisatorin einer Veranstaltungsreihe zu Gewalt gegen Frauen. Sie tauchte ein in ihren alten Freundinnenkreis, und ihr Amsterdamer Leben verlor sich in rasendem Tempo. Sie war wieder zu Hause, es war wieder wie früher, und er fehlte ihr nicht. Doch jeden Abend rief sie ihn pflichtschuldig an, um ihm die Sicherheit zu geben, dass sie in der Ferne an ihn dachte. Auch wenn es nicht stimmte.
Irgendwann sitzen Ruth und Michaël dann endlich in der Sitzecke von IKEA, bei einem Glas Whisky. Er kauert ihr gegenüber, schaut sie nicht an. Auf das, was er unzusammenhängend erzählt, kann sie sich nur schlecht einen Reim machen. Irgendwelche Menschen legen ihm Steine in den Weg, irgendwelche Behörden machen Dienst nach Vorschrift, irgendwelche Gastgeber nerven. Geschlossene Brücken und Autobahnen, Abzug des UNHCR-Personals, LKW-Fahrer, die Einladungen über die Grenze schleusen und mit Ausreisegenehmigungen zurückkehren, Massaker an Orten, von denen sie noch nie gehört hat, Racheaktionen für erschossene Soldaten im Verhältnis eins zu zehn, und immer wieder Zahlen, Zahlen von Gastgebern, die auf Flüchtlinge warten, Zahlen von Flüchtlingen, die auf die Ausreise aus dem Kriegsgebiet und die Einreise in die Niederlande warten.
Michaël stiert vor sich hin. Manches von dem, was er sagt, kann sie rein akustisch nicht verstehen, denn er öffnet die Lippen nicht beim Sprechen, als sei ihm die eigene Stimme peinlich. Diese schönen vollen Lippen, die sie so lange nicht mehr geküsst hat, die bloße Vorstellung ist jetzt schon ein Sakrileg. Sie merkt, wie ihre Gedanken wegdriften, sein Gebrabbel richtet sich nicht an sie persönlich, in ihrem Kopf hämmert die immer gleiche Frage: Wie konnte es zu dieser plötzlichen Veränderung zwischen ihnen kommen? Er fragt sie nichts. Und was könnte sie ihm schon erzählen? Was ist eine neue Brosche gegen die Rettung Hunderter? Was ihr Bedürfnis nach Blickkontakt angesichts von Terror, Vergewaltigungen, Massakern und Vertreibungen?
Sie schämt sich für ihre hausbackenen Wünsche. Eine mit ihrer Familiengeschichte hat schon gar nicht das Recht, Zuwendung einzufordern, wenn anderswo Menschen ermordet werden. Was Michaël sagt, ist richtig, ihre ungeborenen Kinder könnten sie eines Tages fragen, warum sie weggeschaut, was sie getan oder unterlassen haben, könnten ihnen Vorwürfe machen, wie ihrer Elterngeneration in den Siebzigern Vorwürfe gemacht wurden.
Wenigstens die Lederjacke, die sie in Michaëls Auftrag als Bestechungsgeschenk für einen UNO-Beamten gekauft hat, passt und gefällt dem Empfänger. Ruth ist glücklich, etwas Nützliches getan zu haben. Michaël wendet Taktiken an, die sie ihm nicht zugetraut hätte. Während er sich in eigenen Angelegenheiten stets so verhalten hat, dass sich seine Handlungen wegen seiner für andere unerträglichen Prinzipienfestigkeit zwangsläufig innerhalb kürzester Zeit gegen ihn richten mussten, ist er im Interesse seiner Schutzbefohlenen zu jedem Kompromiss bereit. Bestechungen, Lügen, Drohungen bis hin zu dreister Erpressung – skrupellos und virtuos setzt er ein, wovon er sich das Gelingen seiner Mission erhofft. Ich bin ein Straßenkind, mir passiert nichts, hat er Ruth immer schon beruhigt, wenn sie sich Sorgen um ihn gemacht hat. Jetzt versteht sie, was er damit meinte.
Michaël schenkt sich zum
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