Mein Erzengel (German Edition)
Mund zu einem feinen Lächeln. Sie scheint ihn zu kennen. Sie schauen sich zum zweiten Mal in die Augen, Amira ist Ruth sympathisch.
Kaum haben sie die Stadt hinter sich gelassen, brettert Michaël in einem Wahnsinnstempo über die Autobahn. Zu beiden Seiten flaches Land mit langweiligen Büschen und Bäumen, irgendwie vertraut. Ab und zu ein Bauernhaus. Nach etwa einer halben Stunde ein Dorf, Michaël geht vom Gas, nur um am Dorfende gleich wieder zu beschleunigen. Weiter geht die Fahrt, eine triste Gegend, vereinzelte Nester. Mit kreischenden Bremsen hält er nach etwa einer halben Stunde an einem großen leeren Platz.
Aus einem breiten einstöckigen Gebäude kommen Menschen gelaufen, die Fahne des kürzlich gegründeten Staates weht vom Balkon. Kinder umringen den Wagen. «Ver-be-ke», «Ver-be-ke», rufen sie. Das ist auch Ruths Name, er ist ihr fremd, wie in der ersten Zeit ihrer Ehe. Eigentlich hatte Michaël als seinen Beitrag zum Geschlechterverrat ihren Namen annehmen wollen, schließlich habe er sich Ruth ausgesucht, nicht jedoch seinen Vater, dessen Namen er trägt. Doch sie bestand darauf, zu heißen wie er, wollte ihm, dem Schriftsteller, nicht seinen Namen nehmen. Außerdem gefiel ihr der fremdländische Klang.
Gefolgt von einer Menschentraube, läuft Michaël mit großen Schritten auf das Haus zu, hat schwer an seinem Körper zu tragen, über der Schulter die Tasche mit dem Laptop. Drinnen ein hoher scheunenartiger Raum, ein Gewimmel von Menschen. Zusammengerollte Matratzen, Hausrat, mit Decken und Stoffbahnen verhängte Verschläge. Ehrfürchtige Stille breitet sich aus. Ein Mann um die vierzig tritt heran und erstattet Bericht. Amira übersetzt. Ruth hält sich abseits, erst allmählich gewöhnen sich ihre Augen an das schummrige Licht. Ihr Blick bleibt an einer sehr alten Frau haften, das von einem Kopftuch umrahmte Gesicht ist zerknittert. Wie sie ganz ruhig in ihrer weiten Pluderhose auf dem Boden kauert, in der knorrigen Rechten eine selbst gerollte Zigarette, ihre Lider hängen so tief, dass man die Augen kaum sehen kann. Ihre Kinder werden sie ohne groß zu fragen mit in die Niederlande nehmen – wenn sich eine Gastfamilie findet. Aber wer will sich schon mit einer so alten Frau belasten, schließlich könnte sie krank werden oder gar sterben. Wie lange wird sie wohl auf dieser Matratze ausharren müssen? Der Ausnahmezustand ist plötzlich nicht mehr erregend.
Michaël winkt Ruth zu sich, stellt sie dem Mann vor, der der Sprecher der Flüchtlinge zu sein scheint. Ein paar Frauen schieben zwei Tische zusammen, zaubern aus dem Chaos ein blütenweißes Tischtuch hervor, dann drei kleine Tassen mit dickem, stark gesüßtem Kaffee. Ruth soll sich neben Michaël und Amira setzen und fühlt sich fehl am Platz.
Michaël klappt den Laptop auf. Vor ihnen auf dem Boden sitzen mehr als hundert Menschen jeden Alters – ganze Familien, die Kinder ebenso still wie ihre Eltern. Draußen wird es immer dunkler, Michaëls Gesicht ist vom Laptop blau angeleuchtet. Die Gesichter der Leute sind erwartungsvoll und angespannt, man kann die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Michaël redet nicht lange herum, liest mit monotoner Stimme eine Reihe von Namen vor, das Verfahren ist eingespielt, es sind die Namen derjenigen, deren Einreisedokumente vollständig vorliegen, weil sie erfolgreich an niederländische Gastfamilien vermittelt werden konnten. In den nächsten Tagen dürfen sie das Transitzentrum verlassen. Freudenschreie durchbrechen die gespannte Stille, Freunde beglückwünschen einander, andere können ihre Enttäuschung nicht verhehlen. Für sie heißt es, weiter hier zu campieren.
Ruth ist es bang um diese Menschen, besonders um die Alten, wie Bauern schauen die meisten aus, klare Gesichter, von schwerer Arbeit und Sorge zerfurcht. Wie wird es ihnen in den Niederlanden ergehen? Werden sie je die Sprache erlernen, werden sie nicht vor Heimweh krank werden? Wie wird es mit den Gastgebern gehen? Die Umgangsformen in ihrer Heimat sind so anders als in den Niederlanden. Dann denkt sie an ihre Mutter, ganz allein in einem fremden Land, deren Sprache sie nicht verstand. In Schweden gingen die Leute anders miteinander um, als sie es von zu Hause gewohnt war. Und doch lebte sie sich ein, war dann nach zehn Jahren kreuzunglücklich, weggehen zu müssen. Aber ihre Mutter war jung und gebildet. Manche dieser Menschen haben noch nie ihr Dorf verlassen, kennen nicht einmal die Hauptstadt. Doch die
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