Mein Erzengel (German Edition)
waren wohl dasselbe: eine Flucht vor der Auseinandersetzung. Also lebten sie wie siamesische Zwillinge, auf Gedeih und Verderb aneinandergefesselt, weshalb es sich empfahl, nicht allzu genau hinzusehen, was sich zwischen ihnen zusammenbraute.
Nach dem zweiten Glas beginnt Ruth ein Gespräch, sie spürt einen Anflug von Bereitschaft, darf sich den kostbaren Augenblick nicht entgehen lassen.
«Vor einigen Tagen hast du mir ein rätselhaftes Fax geschickt. Alles in Ordnung, hast du geschrieben. Was war in Ordnung?»
«Ist dir nicht aufgefallen, dass du einen Tag und eine Nacht nichts von mir gehört hast?» Er klingt beleidigt.
Nein, es war ihr nicht aufgefallen, sie dachte, er sei beschäftigt.
Michaël schweigt lange, sie unterbricht ihn nicht.
«Ich bin entführt worden.» Er spricht leise, durch die Zähne, starrt auf die Tischplatte.
«Was?»
«Ein Mann hat mich vor dem Wagen angesprochen, auf Englisch. Er hat etwas für mich, das mich interessieren könnte, hat er gesagt. Ob er einsteigen kann? Da hab ich ihn einsteigen lassen.»
Vertrauenerweckend habe er ausgesehen, Jeans, eine abgetragene Jacke, irgendwie intellektuell, Dreitagebart und runde Nickelbrille.
«Und dann hat er mir eine Pistole in die Rippen gestoßen und mir befohlen loszufahren. Immer wenn ich abbiegen sollte, hat er mit der Pistole gefuchtelt.»
Schon bald sei ihm klargeworden, dass es Richtung Grenze ging, er war diese Strecke schon einige Male gefahren, als er wegen der Ausreisegenehmigungen mit dem Roten Kreuz auf der anderen Seite hatte verhandeln müssen.
«Die Milizen an den Checkpoints haben uns einfach durchgewunken. Sie haben genau gewusst, wer wir sind. Sogar zum Pinkeln ist er mitgegangen, immer mit der Pistole in der Hand. Es war irgendwie unwirklich, dieses Gefühl, vollkommen ausgeliefert zu sein. Einerseits war ich innerlich ganz ruhig, meinem Schicksal ergeben, andererseits hat mein Hirn gearbeitet wie eine heißgelaufene Maschine. Was wird er von mir wollen? Wo wird er mich hinbringen? Als wir dann zum Auto zurück sind, habe ich seine Schuhe gesehen. Seltsam war das: Plötzlich waren alle meine Gedanken bei diesen Schuhen, elegante zweifarbige Maßschuhe, schwarz und braun, sie haben überhaupt nicht zu seiner sonst eher einfachen Kleidung gepasst. Ich habe an die Nazis denken müssen, die reichen Juden ihre Juwelen gestohlen haben.»
Ruth wagt kaum zu atmen. Einen solchen Redeschwall hat er ihr seit Monaten nicht gegönnt. Einige Male schaut er sie sogar direkt aus geröteten Augen an. Wenn die Frauen am Nebentisch lachen, muss sie sich anstrengen, ihm zu folgen, so leise spricht er.
Als sie ankamen, sei es schon dunkel gewesen, fährt Michaël fort. Der Ort, in den sein Entführer ihn zu fahren gezwungen hat, ist Ruth aus Berichten der Flüchtlinge bekannt und wirkt ähnlich wie die Nennung von Dachau, Bełżec, Bergen-Belsen. Aufgeschlitzte Kehlen, vergewaltigte Frauen, die Auslöschung ganzer Familien. «Vor der Polizeistation hat er mich aussteigen lassen und hat mich in ein Zimmer gebracht, mit einem Mann in Uniform hinter dem Schreibtisch. Auch der hat irgendwie kultiviert gewirkt. Im Hintergrund war noch einer in Uniform, im Schatten, ich hab nur gesehen, dass er eine Kalaschnikow in der Hand hielt. Was dann kam, war einfach unglaublich: Er hat alles gewusst über uns, meinen Beruf, deinen Beruf, wo wir wohnen, und natürlich die Details über meine Arbeit mit den Flüchtlingen. Es war unheimlich.»
«Wie habt ihr euch miteinander verständigt?»
«Wir haben einen Dolmetscher gehabt, einen jungen, total eingeschüchterten Mann. Ziemlich gut Deutsch hat er gesprochen – und die ganze Zeit gezittert wie Espenlaub. Was mich natürlich noch nervöser gemacht hat. Warum ich das mit den Flüchtlingen mache, hat mich der Mann gefragt. Ob meine Eltern Nazis waren. Auch das hat er offenbar gewusst. ‹Ganz genau›, hab ich geantwortet, ‹und ich will nicht, dass in Europa noch einmal ethnisch gesäubert wird.› ‹Schnauze!›, hat er dann gebellt, oder so was Ähnliches. ‹Seien Sie still!›, hat der Dolmetscher übersetzt. Und dann kaum hörbar: ‹Wenn Sie Wert auf Ihr Leben legen.› Dann hat der Chef den mit der Kalaschnikow zu sich gewunken. Breitbeinig ist er dagestanden, mit einem völlig reglosen Schlägergesicht. ‹Wir können Ihre Frau jederzeit vergewaltigen lassen›, hat er gedroht. Und dann kam so etwas wie eine Prüfung. Der hinter dem Schreibtisch hat von mir wissen wollen, welcher
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