Mein Erzengel (German Edition)
einem bräunlich rot gemusterten Möbelstoff bezogen waren und zum Schlafen umgedreht wurden. Der Rost wurde hochgehoben, damit man das Bettzeug aus der Lade holen konnte. Ruth täuschte große Müdigkeit vor und bat ihren kleinen Bruder, die drei Matratzen für sie umzudrehen. Seltsamerweise tat er es, ohne zu murren.
Bald lag sie im Bett und horchte in die Finsternis hinein. Sie war erleichtert, den bedrohlich in ihr wachsenden Zellklumpen los zu sein, glücklich war sie nicht. Mit einem Mal war ihr bewusst geworden, wie ausgeliefert sie als Frau war. Jeder Mann, egal wie dumm oder hässlich, hatte die Macht, ihr das anzutun, was sie eben erlebt hatte. Sogar ihr Bruder, der noch gar kein Mann war, wäre dazu in der Lage. Um das verlorene Kind trauerte sie nicht. Sie wusste zwar nun, was es bedeutete, eine Frau zu sein, doch immer noch fühlte sie sich als Kind, das unmöglich Mutter hätte werden können.
Dass sie schwanger war, hatte sie in Urbino erfahren, wo sie ein einmonatiges Stipendium des Italienischen Kulturinstituts absolvierte. Die Stipendiatinnen waren in einem Kloster untergebracht, in dem um 22 Uhr die Tore geschlossen wurden. Danach saß eine Nonne in der Finsternis hinter der Tür und wartete mit durchgedrücktem Rücken auf die Säumigen. Schon allein der Gedanke, dass sie dort sitzen und vorwurfsvoll schauen würde – Sanktionen gab es keine, denn die Studierenden waren alle volljährig –, ließ Ruth nachts pünktlich heimkehren. Doch morgens lag sie noch im Bett, während die anderen schon längst beim Frühstück saßen. Ihr war übel, und an ein Frühstück unter Nonnenaufsicht war gar nicht zu denken. Das Einzige, was sie herunterbrachte, waren Salzkartoffeln. Ein Arzt bestätigte ihre Ahnung: Sie war schwanger.
Zu Pflichtbewusstsein erzogen, blieb sie bis zum letzten Tag ihres Kurses in Italien. Immer wieder starrte sie im Badezimmer in den Spiegel, suchte nach einer Veränderung in ihrem Gesicht. Was sich im Inneren ihres Körpers abspielte, musste sich doch äußerlich zeigen. Sie horchte in sich hinein, um mütterliche Gefühle zu entdecken, aber alles, was sie spürte, waren Angst und Ekel. Das Angebot ihres Italienischlehrers, sie samt Kind zu heiraten, schlug sie lachend aus. Und ihrer Mutter hat sie nie davon erzählt.
Ruth ist nicht wieder schwanger geworden, hat stets auf Verhütung geachtet, die ganze Bandbreite: die Pille, das Pessar, die Spirale, die Monat für Monat starke Blutungen verursachte. Ab Mitte dreißig dachte sie ab und zu an die Möglichkeit eines Kindes, aber es gab weit und breit keinen geeigneten Mann, und außerdem war ihr Leben voller Aufregungen, auf die sie nicht verzichten wollte.
Sie hat ihre Entscheidung nie bereut, nur mit Michaël hätte sie es sich schön vorgestellt, das schon. Kinder gehen auf ihn zu, als sei er einer von ihnen. Einmal versuchte er nach einem Sonnenbad auf der Wiese in seine Sandalen zu schlüpfen, ohne die Schnalle zu öffnen. Seine Fersen mit der dicken Hornhaut blieben stecken. Ruth kannte das schon und schimpfte. Ein kleines Mädchen beobachtete gespannt die Szene und schüttelte sich vor Lachen. Wie oft war es von seiner Mutter auf die gleiche Weise zurechtgewiesen worden. Michaël und das Kind erkannten einander. Er liebt Kinder, weil sie ihn annehmen, wie er ist, auch mit strähnigen Haaren und über den Hosenbund quellendem Fett. Sie lieben ihn bedingungslos, wie kein Erwachsener ihn langfristig lieben kann. Auch mit Vera zeigten sich nach einigen Jahren Abnutzungserscheinungen, da half die schönste Bergwelt nichts. Michaël wurde unruhig, konnte in der familiären Enge nicht schreiben, begann sich innerlich zu entfernen. Immer verzweifelter klammerte sich Vera an ihn, belagerte ihn mit ihren Klagen und Tränen, bis Michaël entnervt in sein Heimatland floh. Ihren Wunsch nach Auseinandersetzung habe er als den Durchbruch irrationaler Gefühle erlebt, die seine Fähigkeit, vernünftig zu denken, außer Kraft setzten. So hat er es Ruth erklärt.
Jeder habe in einer Beziehung die Freiheit zu gehen, das war in den Siebzigern der vorherrschende Begriff von Freiheit. Vera fand in ihrem Freundeskreis keine Unterstützung, alle gaben Michaël recht, sogar die Frauen. Vera betrank sich, nahm Drogen, ging nicht mehr zur Arbeit, schon am Vormittag konnte man sie auf unsicheren Beinen antreffen. Dann eines Tages fanden Nachbarn sie in der Scheune. Sie hatte sich erhängt.
Und was war mit den Kindern? Mit dem spastischen Jungen,
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