Mein Erzengel (German Edition)
Michaël in Salzburg eine Liebesbebeziehung mit einer schönen jungen Frau ein, Veras einstiger Freundin. Auf dem Foto, das er Ruth einmal zeigte, lacht sie voller Lebensfreude. Wegen des dramatischen Ausgangs seiner Ehe bemühte er sich um Distanz. Sie vereinbarten feste Besuchstermine, dreimal wöchentlich. Einmal trafen sie einander zufällig in einer Kneipe und verbrachten die Nacht zusammen, da meinte er, der übliche Besuch am folgenden Tag hätte sich erübrigt. Sie aber legte sich in die Badewanne und schnitt sich die Pulsadern auf. Einfach so. Sie wurde in letzter Minute gerettet. Er wisse nicht, wo und wie sie heute lebt, sagte er.
Wieder fragte Ruth nicht nach, wollte ihn schonen, sie sah ja, wie ihn die Erinnerung quälte. Erschrocken war sie aber schon. Die Atemnot, die Panikattacken, ihr Körper warnte sie. Das Asthma, das ihr die Kindheit verleidet hatte, war mit Einsetzen der Pubertät abgeklungen, genau so, wie die Ärzte ihren besorgten Eltern vorausgesagt hatten. Wenn Ruth als kleines Kind nachts keine Luft bekam und nicht schlafen konnte, trug die Mutter sie im Haus umher und sang ihr polnische Wiegenlieder. Nur wenn sie krank war, bekam sie von der Mutter Zuwendung. Im Erwachsenenalter war ein Asthmaanfall ein Hinweis auf ein starkes, angsteinflößendes Gefühl. Es hätte ihr Warnung sein können.
Doch Michaël beruhigte sie. Er habe durch diese beiden Erfahrungen mit Frauen gelernt, die Grenzen seiner eigenen Freiheit zu erkennen, der Freiheit des Mannes, jederzeit zu gehen. Er habe verstanden, dass sich nicht einer vom anderen trennen könne, die Trennung müsse aufgrund eines gemeinsam ausgehandelten Entschlusses erfolgen.
Natürlich dachte keiner von ihnen damals an Trennung, miteinander verschmolzen würden sie ein Bollwerk gegen die Anfechtungen der feindlichen Umwelt bilden. Ruth empfand ihre Umwelt eigentlich nicht als feindlich, sie hatte, solange sie noch in Wien lebte, einen großen Freundeskreis und war angesehen, als Goldschmiedin und als Feministin. Michaël jedoch wähnte sich stets von Menschen umgeben, die ihm schaden wollten, weshalb, hat Ruth nie richtig begriffen. Vielleicht weil er als Schriftsteller nicht reüssierte, obwohl er ihr stets versicherte, an der Meinung anderer nicht interessiert zu sein. Bevor sie einander kannten, hatte er ein Fünfhundertseitenmanuskript, für das er endlich einen Verlag gefunden hatte, vor dem Satz verbrannt, weil ihm die Geschichte nicht stringent genug zu sein schien. Es war sein einziges Exemplar. Seither hat er nichts Größeres mehr geschrieben. Eine solche selbstzerstörerische Radikalität war schwer zu begreifen, aber irgendwie beeindruckt war Ruth schon.
6
«Leidenskultur» nennt Michaël es, wenn Ruth angesichts ihrer beider Sprachlosigkeit nur noch hilflos weinen kann. So viel hatten sie einander früher zu sagen. Seine Meinungen zu Politik und Kunst erschienen ihr zwar bisweilen überzogen, auch wenn sie nur selten zu widersprechen wagte, aber interessant und anregend war es allemal mit ihm. Als sie nach Amsterdam zogen, hatte Ruth ihr gesamtes soziales Umfeld verloren, hatte weder Freundinnen und Freunde noch eine eigene Sprache. Doch das störte sie nicht, sie hatte ihren Mann, und den Rest leisteten die liebenswürdigen Niederländer, die sie mit ihrer entspannten Lebensart und ihrem Humor bezauberten. Geduldig warteten sie, bis sie ihre ersten Sätze in der fremden Sprache zu Ende gesprochen hatte, obwohl sie sich leicht auf Englisch hätten unterhalten können. Es rührte sie, dass Ruth sich bemühte, ihre Sprache zu erlernen. Verwendeten sie das abwertende Wort Moffen für Deutsche, störte Ruth das nicht, sie war ja Österreicherin. Grundlos hatten die Österreicher ein besseres Image in den Niederlanden.
Mit Michaël lebte Ruth versponnen in einen Kokon, der sie schützend umhüllte. Die erste Zeit in Amsterdam war anstrengend, schon die alltäglichsten Verrichtungen kosteten eine Menge Energie. Wie selbstverständlich war der Griff zu einem bestimmten Produkt früher gewesen, nun musste sie alle Markennamen neu lernen, von komplizierteren Alltagsdingen ganz zu schweigen. Interessant und belebend war es aber auch. Sie glaubte glücklich zu sein, doch als sie das erste Mal nach ihrem Umzug Heike in Wien besuchte, brach sie mitten im vertrauten Gespräch in Tränen aus. Erst da merkte sie, was alles sie zurückgelassen hatte.
Umso mehr war sie auf Michaëls Nähe angewiesen. Zeit zum Ausgehen hatten sie wenig, denn
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