Mein Erzengel (German Edition)
regelfremd, sind von der Meinung anderer unabhängig und verkünden Gebote, steht da. Sie haben die Fähigkeit, andere zu manipulieren. Bevor Amira diese Fähigkeit Michaëls durchschaute, hat sie lange Zeit alles getan, was er von ihr verlangte, hat gearbeitet bis zum Umfallen. Schließlich war das hier ein Krieg, der «ihr Volk» heimsuchte. Die bedingungslose Aufopferung dieses Mannes, der von außen betrachtet nichts mit alldem zu tun hatte, erzeugte bei ihr und vielen anderen Schuldgefühle, die Scham, sich selbst nicht genug einzusetzen. Heike, die einstige Deutschlehrerin, macht Ruth auf einen Satz von Karl Kraus aufmerksam: «Das Übel gedeiht nirgends besser, als wenn ein Ideal davorsteht.»
«Pass auf, dass du an seiner Seite nicht zum Wurm wirst», warnte sie Ruth schon bald nach ihrer Heirat. «Du bist nicht schutzbedürftig, du hast es bis jetzt ausgezeichnet alleine geschafft!» Ruth konnte diese Warnung damals nicht verstehen, heute fühlt sie sich tatsächlich wie ein Wurm, ein bedürftiges Mädchen, dem der Vater das Gespräch verweigert. Dieses Bild ruft ihr die Kindheit in Erinnerung. Während der Vater ihren Bruder oft schlug, mit der bloßen Hand, dem Gürtel oder dem Teppichklopfer, hielt er für sie eine subtilere Strafe bereit: Er sprach nicht mit ihr, tagelang, manchmal wochenlang. Sie existierte nicht für ihn. Erst wenn sie sich entschuldigt hatte, war er wieder bereit, das Wort an sie zu richten. Manchmal wusste sie gar nicht, wofür sie sich eigentlich entschuldigte, das betreffende Ereignis lag lange zurück und war unerheblich im Vergleich zur Grausamkeit des Schweigens, mit dem er sie bestrafte.
Solange Ruth noch im Verein tätig war, kümmerte sie sich um ein angemessenes Entgelt für Michaël. Wenn wir schon getrennt sind und unsere Ehe aufs Spiel setzen, soll es uns wenigstens finanziell gutgehen, fand sie, so viele Jahre hat er mit einem Minimum auskommen müssen. Er selbst würde lieber ehrenamtlich arbeiten, es erscheint ihm unmoralisch, für seine gute Tat Geld zu nehmen, doch unter den geänderten Umständen ist Ruth nicht mehr bereit, ihm finanziell unter die Arme zu greifen. Er arbeite kostengünstig, argumentiert sie, mit seinem Einsatz rund um die Uhr spare er drei Arbeitskräfte. Michaël wirft ihr Geldgier vor, Hedonismus, für ihn das schlimmste Schimpfwort überhaupt. Es stimmt, sie will, nachdem alles vorbei sein wird – irgendwann muss doch auch dieser Krieg zu Ende gehen –, gut leben, besser als zuvor. Das Geld soll den heutigen Mangel kompensieren. Ein dummer Gedanke.
Inzwischen hat er in einem Altbau im Stadtzentrum ein Büro angemietet, einen hohen Raum mit Stuck an der Decke. Für die Pässe hat er nun einen eigenen Tisch.
Auch eine Wohnung hat er gefunden, viel zu groß für einen, der sich dort nur wenige Nachtstunden aufhält. Ruth besucht ihn dort einige Male, kauft auf dem Bauernmarkt ein, Obst und Gemüse, das er sonst nie zu essen bekommt, kocht für ihn. Wenn er mit Genuss isst, ist Ruth glücklich. Auf dem Markt kann sie vorübergehend ihren Kummer vergessen. Welche Freude ist ihr der Anblick der kräftigen Bauersfrauen mit Kopftüchern, die ihren Weißkäse in aufgerollten Plastiktüten feilbieten, fast flüssig die eine Sorte, fest und gelblich die andere, dazwischen mehrere Varianten mit unterschiedlichem Fettgehalt. Und von jeder darf sie kosten. Der Geschmack der Äpfel, Birnen, Tomaten und Gurken erinnert sie an ihre Kindheit, als es noch keine EU gab.
Michaëls Körper ist noch unförmiger geworden, während seiner rasanten Autofahrten stopft er sich ein halbes Dutzend Marsriegel in den Mund, für ein richtiges Essen hat er keine Zeit. Wenn er sich bückt, rutscht ihm die Hose hinunter und entblößt ein Maurerdekolleté. Wenigstens muss sie nicht auch noch eifersüchtig sein, in diesem Zustand wird keine Frau ihn nehmen.
In seiner Wohnung schläft Ruth auf der Wohnzimmercouch. Er beklagt sich nicht, aber sie sieht, dass es ihn kränkt. Zu einer Aussprache kommt es nicht, sie ist mittlerweile genauso sprachlos geworden wie er.
Einmal fuhren zwei Freunde aus Wien hinunter, versprachen, auf ihn einzuwirken, zwischen ihnen zu vermitteln. Michaël sagte erstaunlicherweise zu, was Ruth als gutes Omen verstehen wollte, endlich war er bereit, fremde Hilfe anzunehmen. Mitarbeiter internationaler Organisationen, die ähnlichem Stress ausgesetzt sind, müssen sich Supervisionen unterziehen, wofür Michaël, wie für jegliche psychologische
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