Mein Erzengel (German Edition)
die Verehrung der Geretteten gilt Michaël. Auch die Medien haben das Interesse verloren, der Krieg dauert schon zu lange, es ist immer dasselbe, nur die Zahlen ändern sich, werden von Tag zu Tag größer. Und doch ist Michaëls Projekt nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Er weiß das, es lässt ihm keine Ruhe. Einmal ausschlafen könnte Menschenleben kosten.
Ruth schwankt zwischen Hass und Ehrfurcht. Unmissverständlich gibt Michaël ihr zu verstehen, dass er anderes zu tun hat, als sich um sie zu kümmern, die sie im Warmen sitzt und genug zu essen hat. Deren einzige Sorge ihr jämmerliches Gefühlsleben ist. Vor lauter Unruhe und Frustration irrt Ruth durch die Stadt und kauft sich Kleider, der Preis ist egal, wenigstens für sich selbst will sie schön sein, auch wenn er sie längst nicht mehr sieht. Ihr Gesicht ist grau, an den Mundwinkeln graben sich Falten ein. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gelacht hat.
Smit ist ausgestiegen, er wollte sich nicht weiter von Michaël herumkommandieren lassen. Es haben sich andere gefunden, die seinem Charisma erliegen, sogar in der niederländischen Botschaft gibt es einen jungen Mann, der von Michaëls Hingabe fasziniert ist. Unter Umgehung der bürokratischen Unwägbarkeiten stellt er ihm Reisedokumente für die Flüchtlinge aus und riskiert dabei seine Karriere.
Michaël arbeitet zwischen sechzehn und achtzehn Stunden am Tag. Wie eine Maschine funktioniert er, systematisch, diszipliniert, auf geniale Weise anarchisch. Er ist zu einer Institution geworden. Wenn die UNO-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR nicht weiterweiß, findet er immer noch einen Weg, der die bürokratischen Hindernisse umgeht. Wer bereit ist, ihm bei seinen humanitären Unternehmungen ergeben beizustehen, ist sein Freund, wer Kritik übt oder eigene Ideen entwickelt, wird als unnötiger Ballast abgeworfen. «Wo es um Leben oder Tod geht, kann ich mir keine Demokratie leisten», sagt Michaël.
Ruth denkt an Raoul Wallenberg und Varian Frey, der «ein vom Himmel gefallener Engel» genannt wurde. Auch die beiden waren Einzelkämpfer. In den dreizehn Monaten zwischen Juni 1940 und August 1941 gelang es Varian Frey in Marseille, mehr als 2200 jüdischen Flüchtlingen den Weg über die Grenze ins neutrale Portugal zu ermöglichen, von wo aus sie in die Vereinigten Staaten weiterreisen konnten. Michaël ist über diese Zahl schon hinaus, er wird nicht müde, täglich abzugleichen, es steht alles im Computer. Manchmal hat Ruth das Gefühl, die Zahlen sind ihm wichtiger als die Menschen. Frey kümmerte sich um Intellektuelle, Politiker und Künstler, um die Crème de la Crème: Marc Chagall, Hannah Arendt, das Ehepaar Werfel, Heinrich, Nelly und Golo Mann, Marcel Duchamp, Max Ernst, Lion Feuchtwanger. Michaël wählt nicht aus, geht strikt nach seiner Liste vor, die Namen geordnet nach dem Datum der Registrierung. Wer versucht, sich bei ihm Liebkind zu machen, um in der Liste nach vorn zu rücken, fliegt raus. Das ist Michaëls Demokratie: unbestechliche Gerechtigkeit.
Der Journalist Varian Frey sah sich nach seiner Verhaftung durch die französische Polizei und der Abschiebung in die USA gezwungen, für Coca-Cola Werbung zu machen, zwei Ehen scheiterten. Mit neunundfünfzig Jahren starb er an einem Herzinfarkt. Auf Betreiben eines von ihm Geretteten wurde dreißig Jahre nach seinem Tod eine kleine Straße am Potsdamer Platz in Berlin nach ihm benannt.
Wird man sich an Michaël erinnern? Möchte er das überhaupt? Er tut nichts, um in den Medien präsent zu sein, vergrault Journalisten, weil ihm ihre Fragen zu blöd sind. Die anderen Einzelkämpfer, die ihre Tätigkeit besser vermarkten können, hasst er. Die diversen humanitären Organisationen und Personen konkurrieren um den begrenzten Spendenmarkt.
Niemand begreift wirklich, was Michaël umtreibt. Mit seinem Charisma gelingt es ihm, Dinge zu bewirken, die keiner für möglich gehalten hätte. Er kann zwar die Kriegstreiber nicht aufhalten, aber er kann biedere Bürger dazu bringen, ihren Alltagstrott über Bord zu werfen und ganze Flüchtlingsfamilien aufzunehmen, eine Opferbereitschaft, die Ruth mit Bewunderung erfüllt. Und er hat eine komplizierte Infrastruktur geschaffen, um die Flüchtlinge aus der Gefahrenzone zu holen, mit Reisedokumenten zu versorgen und sicher in die Niederlande zu bringen.
Ruth schaut im Lexikon unter Charisma nach. Menschen, die über diese Eigenschaft verfügen, handeln außergewöhnlich, denken
Weitere Kostenlose Bücher