Mein Erzengel (German Edition)
Betreuung, nur Sarkasmus übrig hat. Am Ende haben er und die Freunde einander verpasst. Im Hotel, in dem die beiden absteigen wollten, war kein Zimmer frei, da nahmen sie sich ein anderes und hinterließen Michaël eine Nachricht. Angeblich erreichte die ihn nicht rechtzeitig, vielleicht hat er sich aber dann doch nicht mit ihnen treffen wollen. Die beiden reisten unverrichteter Dinge ab. Sie waren Ruths letzte Hoffnung.
Manchmal träumt sie von Michaël. Einmal erscheint er ihr als Superman, in roten Stiefeln und einem grauen Cape mit aufgestelltem Kragen. Mit Riesenschritten durchmisst er eine menschenleere Gegend. Kommt er an einem Gebäude vorüber, hebt er die rechte Hand wie zum Hitlergruß, und aus seinen Fingern schießen Flammen. Zurück bleiben rauchende Häuser mit ausgebrannten Dächern und leeren Fensterhöhlen. Er sieht sich nicht um, läuft immer weiter, und sein Cape flattert hinter ihm her. Dann liegt er auf einmal in einem Spital, an Schläuche angeschlossen. Ruth streichelt ihm zärtlich die Hand. Ich bin erschossen worden, sagt er und sieht sie traurig an. Aber nein, beruhigt sie ihn, du bist am Leben, und ich bin bei dir. Spürst du nicht meine Hand? – Wie schön, flüstert er, dann ist ja alles gut. Als sie aufwacht, sind ihre Wangen nass. Einen Augenblick lang muss sie nachdenken, ob er nicht tatsächlich erschossen worden ist.
Immer wieder denkt Ruth an Vera, Michaëls erste Frau. Ihr Mann, der Vater ihrer beiden Kinder, hatte lange Zeit nicht gemerkt, dass seine Frau in Michaël verliebt war, für ihn war der Junge kein richtiger Mann, dessen Konkurrenz er fürchten musste. Nachdem Vera ihren Mann verlassen hatte, heiratete die um etliches Ältere unverzüglich den gerade Achtzehnjährigen. Sie lebten idyllisch und abgelegen an einem österreichischen Bergsee, Michaël versorgte die Kinder, sie arbeitete in einem Büro, so hat er es Ruth erzählt. Dieselbe Sehnsucht nach Geborgenheit und familiärer Normalität muss es wohl gewesen sein, die er zwei Jahrzehnte später bei Ruth gesucht hat.
Michaël liebt Kinder, in der Anfangszeit hat Ruth bedauert, zu alt zu sein, um noch schwanger zu werden. Er war der erste Mann in ihrem Leben, mit dem sie sich vorstellen konnte, ein Kind zu haben, einer, der sich kümmern und nicht alle Verantwortung auf sie abwälzen würde. Hatte sie früher Kinder gewollt? Diese Frage wird ihr oft gestellt. Eigentlich weiß sie es nicht genau. Heike wusste, was sie wollte, und entschloss sich mit Ende dreißig zu einer Schwangerschaft. Der Kindsvater war nicht begeistert, das machte ihr nichts aus, das Kind war ihr wichtiger als der Mann. Der verschwand bald aus ihrem Leben, der Sohn aber bleibt ihr erhalten.
Vor langer Zeit war Ruth einmal schwanger, einundzwanzig Jahre war sie alt und der potenzielle Vater längst wieder in den Vereinigten Staaten, wo er in Harvard studierte. Immerhin hatte er ihr einen Scheck mit seinen gesamten Ersparnissen geschickt, was es gekostet hat, weiß sie nicht mehr, es blieb etwas übrig, ein Schmerzensgeld sozusagen. Damals war der Schwangerschaftsabbruch noch illegal, später setzte sie sich in der Frauenbewegung für die Legalisierung ein. Wie so oft, wenn es ein Problem in ihrem Leben gab, hatte Ruth auch diesmal niemandem etwas gesagt, da muss ich alleine durch, war ihr Motto. Der Arzt ließ sie in seine Wohnung kommen und drehte im Nebenzimmer den Fernseher laut. Glücklicherweise hatte sie keinen Anlass zu schreien. Er gab ihr zur Betäubung Äther, der sie den Eingriff wie in Watte gepackt erleben ließ. Am schlimmsten war, dass der Mann ihr auftrug, in den kommenden Wochen den Geschlechtsverkehr zu meiden. Aus heutiger Sicht handelte es sich um eine normale, medizinisch notwendige Mitteilung, Ruth jedoch fühlte sich behandelt wie ein Flittchen. Die Angst, die dem Abbruch vorangegangen war, war so groß gewesen, dass sie sich vornahm, nie wieder mit einem Mann zu schlafen. Später stellte sich heraus, dass der «Engelmacher» auch mit Drogen dealte, er musste dafür sogar ins Gefängnis.
Es regnete, und der Arzt schenkte ihr einen Schirm. Vielleicht nahm Ruth ein Taxi nach Hause, wahrscheinlich aber fuhr sie mit der Straßenbahn, Taxis galten in ihrer sparsamen Familie als übertriebener Luxus. In der kleinen Gemeindewohnung gab es für Ruth keinen eigenen Raum, sie schlief im Wohnzimmer mit dem Dauerbrandofen, in dem sich tagsüber das Familienleben abspielte. Ihr Bett hatte drei Matratzen, die auf der Tagesseite mit
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