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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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beide mussten beruflich von vorne beginnen. Ruth fertigte eine neue Kollektion an und klapperte damit die Juweliere ab. Michaël bemühte sich um Artikel und setzte eine Annonce in die Stadtzeitung, in der er sich als Softwarespezialist anbot. Da sie in einem Raum arbeiteten, lernten sie, Rücksicht aufeinander zu nehmen. Geredet wurde abends. Er erklärte ihr, was politisch los war in den Niederlanden und lehrte sie indonesische Speisen kochen. Er spielte ihr seine Lieblingsschallplatten vor, eine bunte Mischung aus Barockmusik, Jazz und der elektroakkustischen Musik jener wenigen Komponisten, deren Arbeit er schätzte. Er empfahl ihr Werke niederländischer Literatur, die sie vorerst auf Englisch oder Deutsch las, so wurde sie Schritt für Schritt heimisch in der neuen Kultur. Und nun dieses Schweigen.

    Plötzlich gibt Michaël nach, teilt dem Verein mit, «aus privaten Gründen» in Zukunft nur noch Teilzeit arbeiten zu wollen. Ruth sieht das als Chance für einen Neuanfang, nach der Phase des gegenseitigen Verschlingens werden sie einander ab jetzt mehr Freiraum zubilligen. Doch gleich darauf kommt es zu einer dramatischen Zuspitzung im Kriegsgebiet. In dem Ort, in den man ihn vor Monaten entführt hat, werden innerhalb dreier Tage sechzig Menschen ermordet. Für die bedrohte Bevölkerungsgruppe herrscht Ausgangssperre, wer sich auf die Straße wagt, riskiert sein Leben. Alle zwischen sechzehn und sechzig werden zur Zwangsarbeit herangezogen, ausgenommen nur Frauen mit Kindern unter sieben. Der Druck auf die Organisation wächst, aus immer neuen Orten treffen Hilferufe ein. Gleichzeitig versuchen die Niederlande, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen, wöchentlich werden neue Papiere erfunden. Und es melden sich auch weniger Gastfamilien. Die Flüchtlinge, die es ins rettende Ausland geschafft haben, springen ein, nehmen immer mehr Verwandte auf.
    An eine Reduzierung von Michaëls Aktivität ist nun nicht mehr zu denken. Er macht weiter wie besessen. Als ginge es um seine eigene Existenz, als habe er panische Angst vor dem Aufhören, vor dem Ausstieg aus seiner Kriegswelt. Um wie viel spannender ist es, Menschenleben zu retten, als zu Hause den Küchenboden zu wischen. Auch Kriegsreporter machen immer weiter, hasten von einem Kriegsschauplatz zum nächsten, auf rastloser Suche nach dem Adrenalinschub der Ausnahmesituation.

    Ruth hat das selbst einmal erlebt, während einer lange zurückliegenden Reise nach Mosambik. Sie besuchte damals einen Freund, der dort als Entwicklungshelfer arbeitete, und schrieb Artikel für eine österreichische Provinzzeitung. Nur indem sie etwas von dem, was sie erlebte, an andere weitergab, glaubte sie ihre Anwesenheit in dem bitterarmen, vom Bürgerkrieg gebeutelten Land rechtfertigen zu können. Als Journalistin wurde sie eingeladen, mit dem smarten Gesundheitsminister in die Hungerzone im Norden zu reisen, in der die Regierung ein Auffanglager für Binnenflüchtlinge eingerichtet hatte. Im Flugzeug wurde ihr als Geste der Gastfreundschaft Champagner angeboten, den sie aus Höflichkeit trank. Vom Flughafen fuhren sie in Panzerbegleitung durch die menschenleere Kriegszone, wo Menschen Nasen und Ohren abgeschnitten wurden, wo man Eltern die Kinder raubte, um sie zu Soldaten auszubilden. Vor ihnen ein Panzer, hinter ihnen ein Panzer. Da spürte sie den Adrenalinschub der Ausnahmesituation, ein seltsames Gefühl. Einerseits war sie dieselbe Ruth, die zu Hause silberne Anhänger in Form von Frauenzeichen schmiedete und ausging, um sich ein Paar neue Schuhe zu kaufen, andererseits fuhr sie im Jeep mit dem Gesundheitsminister eine holprige, staubige Straße entlang, und hinter dem grauen Gebüsch am Wegesrand kauerte vielleicht mit einer Handgranate ein «Bandido», wie man sie offiziell nannte. Ginge eine Mine hoch, würde es den Panzer treffen, der die Vorhut bildete. Totenstill war es, nur die Geräusche der Fahrzeuge waren zu hören. Die Szenerie erschien Ruth seltsam irreal, und was sie spürte, war ein gesteigertes Lebensgefühl. Hier ging es um Leben oder Tod. Als sie nach zweieinhalb Monaten aus Mosambik zurückkehrte, litt sie lange an einer Depression. Das Leben in Wien ödete sie an. In der Kneipe unterhielten sich die Leute über die Qualität von Weinen. In Mosambik hatten sich alle Gespräche um existenzielle Fragen gedreht. Das Land befand sich an einem Scheideweg, und alle Menschen, mit denen sie zusammentraf, hatten eine gemeinsame Sorge.

    Er habe keine Zukunft,

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