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Mein Erzengel (German Edition)

Mein Erzengel (German Edition)

Titel: Mein Erzengel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erica Fischer
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den du so geliebt hast? Mit dem du an den See gegangen bist, um ihm Geschichten über Fische zu erzählen? Er kam nach dem Tod der Mutter in ein Heim. Vielleicht aber auch zum Vater, Ruth kann sich nicht mehr erinnern, was Michaël ihr erzählt hat, es ist lange her. Immer hattest du Tränen in den Augen, wenn du über ihn sprachst, er, der Schwache, brauchte deinen Schutz mehr als alle anderen. Wieso hast du dich nicht um ihn gekümmert, ihn nie besucht? Er soll in Wien in einer betreuten Wohngemeinschaft wohnen und als Gärtner arbeiten, hat Ruth von einer von Michaëls früheren Freundinnen erfahren. Dich wiederzusehen wäre für ihn nur noch schmerzlicher gewesen, hast du gesagt. Dabei warst du auf deine soziale Vaterschaft so stolz. Immer wieder habe deine Umwelt dich darauf hingewiesen, dass du nicht der leibliche Vater seiest und dein Engagement deshalb weit über das hinausgehe, was dir zuzumuten sei. Schließlich ist er ja nicht sein eigener Sohn, unterdrückte auch Ruth einen aufkommenden Zweifel und fragte nicht weiter. Jetzt ist es zu spät. Es ist wie bei Eltern, die rechtzeitig zu fragen wir verabsäumen. Die wichtigen Fragen fallen uns ein, wenn sie dement oder tot sind. Ruth wird nie erfahren, wie Michaël einfach weggehen konnte, ohne je wieder Kontakt zu den Kindern aufzunehmen, die er ihr gegenüber stets als seine bezeichnete.

    Ruth erinnert sich an einen ihrer seltenen Besuche in Meerwijk, Michaëls Heimatdorf. Es hatte Hollandse Stamppot mit einer steinharten Frikadelle gegeben, einen ihr zu Ehren gekochten überaus sättigenden traditionellen Eintopf, und alle saßen satt und träge in der dunstigen Wohnküche. Während die Mutter die Appeltaart aufschnitt, schwatzte sie in einem fort über die Neuigkeiten im Dorf, wer geheiratet hatte und wer gestorben war. Ruth hatte zwar im Lauf der Jahre recht gut Niederländisch gelernt, der Mutter konnte sie allerdings nur mit Mühe folgen. Zumindest entledigte deren Schwatzhaftigkeit Ruth der Verpflichtung, ihren Teil zum Gespräch beizusteuern. Dabei entschlüpfte der Schwiegermutter auch so manche taktlose (oder boshafte) Bemerkung. «Du wirst ja jetzt auch schon bald in die Wechseljahre kommen», sagte sie einmal. Ruth spürt noch heute, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Es war ein Thema, das sie noch nie mit Michaël erörtert hatte.
    Ansonsten begleitete sie ihren Mann gern zu seinen Eltern. Während jeder Besuch für ihn eine Qual war und schmerzhafte Kindheitserinnerungen wachrief, beobachtete Ruth voller Neugier diese fremde im Wasser versinkende Welt. Der Vater sah ab und an verlegen zu ihr herüber und schwieg. Mit Staunen stellte sie fest, wie ähnlich Michaël ihm sah, dieselben vollen Lippen, die wasserblauen Augen, die große, massige Gestalt.
    Michaël und Ruth waren verheiratet, aber ihre beiden Familien hatten einander nie kennengelernt. Zur Hochzeit in Wien lud Michaël seine Eltern nicht ein, ein Zusammentreffen mit Ruths jüdischer Mutter erschien ihm unvorstellbar. Auch ihr war die Vorstellung ein Graus, wie ihre arrogante, bürgerliche Mutter auf diese einfachen Menschen aus der holländischen Provinz reagieren würde. Es muss Michaëls Eltern gekränkt haben, aber sie ließen sich nichts anmerken. Sie begegneten ihm fast ängstlich, sichtlich bemüht, ihn nicht zu verärgern.
    Sie waren gerade bei der Nachspeise angelangt, als Michaëls jüngerer Bruder hereinkam, die Mutter hatte ihm ein Stück Appeltaart mit Schlagsahne beiseitegestellt. Nach einigen widerwillig ausgestoßenen Begrüßungsworten verfiel Michaël in Schweigen und sah durch seinen Bruder hindurch. Der blieb auch nicht lange, fühlte sich in Michaëls Nähe sichtlich unwohl. Später klärte Michaël sie auf: Sein Bruder habe sich in seiner Ehe rührend um seine beiden Kinder gekümmert, besonders der jüngere Sohn sei ihm nie von der Seite gewichen. Als er sich aber in eine andere Frau verliebte und fortzog, ließ er auch die Kinder im Stich, die verstört auf die Trennung reagierten. Damit war sein Bruder für Michaël gestorben, genauso drückte er es aus. Männer, die sich der Verantwortung für ihre Kinder entziehen, überschüttet er mit Hass und solidarisiert sich mit den Frauen, den Opfern männlicher Gewissenlosigkeit und Rohheit. Wie immer beeindruckte Ruth die Unnachgiebigkeit seiner Haltung. Dass sie seinen Bruder – er war jünger, schlanker, hatte volleres Haar – dennoch attraktiv fand, gab sie Michaël gegenüber nicht zu.
    Nach Veras Tod ging

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