Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
einzubinden, zweitens eine Barriere zu bauen gegen weiteres sowjetisches Vordringen. Die Sowjets hatten ja kurze Zeit vorher ihre Militärmacht vorgeschoben bis an die Elbe, sie hatten 15 Millionen Polen aus ihren angestammten Heimatgebieten vertrieben und anschließend diese Gebiete der Sowjetunion einverleibt.
Mir scheint, dass die deutschen Politiker bisher nicht mit ausreichender Klarheit unserem eigenen Volk gesagt haben, dass wir nicht aus europäischem Idealismus für eine Europäische Union eintreten, sondern aus vitalem eigenen Interesse der Deutschen. Wenn außerdem noch Idealismus hinzukommt, so schadet dies nicht. Es tut mir weh, wenn ich gegenwärtig deutsche Politiker reden höre oder deutsche Journalisten lese, die von einer Führungsrolle Deutschlands oder von einer Brückenfunktion Deutschlands zum Osten sprechen oder ein Buch schreiben unter dem Titel »Zentralmacht Deutschland«. Dies alles tut uns nicht gut, weder in den Augen der Franzosen noch der Polen, noch der Holländer, noch der Tschechen.
Wenn ich sagte, es liegt in unserem eigenen Interesse, mit all diesen Nachbarn gute Nachbarschaft zu halten, uns eng mit ihnen zu verzahnen, und zwar unauflöslich, dann kann ich das vitale deutsche Interesse auch noch anders definieren. Nämlich: Es liegt in unserem vitalen Interesse, zu vermeiden, dass wir durch unser eigenes Verhalten gegen uns Koalitionen schmieden.
Wilhelm II . war ein großer Meister darin, unbeabsichtigterweise eine Koalition gegen Deutschland zusammenzubringen. Diese hat dann vier Jahre gebraucht, um Deutschland im Ersten Weltkrieg zu besiegen. Hitler hat Ähnliches nicht unbedacht getan, sondern vielmehr blutig erzwungen: eine Koalition fast aller Europäer gegen die Deutschen. Es hat dann abermals mehr als vier Jahre gedauert, bis diese Koalition gegen uns den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte.
Manchmal bin ich ein wenig besorgt, wenn ich heute sehe oder lese oder höre, wie manche bei uns – ähnlich unbedacht wie Wilhelm II . – Äußerungen tun, Handlungen vornehmen, die geeignet sind, psychologische Affinitäten herzustellen zwischen unseren Nachbarn, die gegen uns gerichtet sind oder gar psychische Koalitionen gegen uns Deutsche auszulösen.
Es war ein schwerer Fehler, dass im Herbst 1989 Bundeskanzler Kohl seinen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Vereinigung verkündete und Präsident Mitterrand davon zuerst aus der Zeitung oder aus dem Fernsehen erfuhr. Der französische Staatspräsident hat darauf allerdings auch nicht sonderlich klug reagiert, das soll hier nicht unerwähnt bleiben. Er machte nämlich einen demonstrativen Besuch in der damaligen DDR und einen zweiten demonstrativen Besuch in der Sowjetunion. Diese Irritation schien nach ein paar Jahren, wenn nicht geheilt, so doch wenigstens überwunden zu sein.
Ein anderes Beispiel war das Ratifikationsverfahren hinsichtlich des Maastrichter Vertrages. In Frankreich – und nicht nur in Frankreich – gab es dafür ein Referendum. In Deutschland wurde diese Frage aber durch ein hohes Gericht entschieden, in Karlsruhe. Dieses Gericht hat dann auch noch lauter überflüssige Sachen in sein Urteil hineingeschrieben. Es hat eine Reihe von Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit die entstehende Europäische Union mit dem deutschen Grundgesetz in Übereinstimmung sei. Dies war überflüssig; denn danach war nicht gefragt worden. Alles sehr deutsch! Beinahe schon ein bisschen wilhelminisch! Noch schlimmer: Der Deutsche Bundestag selbst – einschließlich der Opposition – hat zum Maastrichter Vertrag anlässlich der Ratifikation einen Beschluss gefasst: Es gilt zwar, dass in diesem Vertrag drinsteht, vier Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Mitgliedsstaat an einer gemeinsamen europäischen Währung teilnehmen kann, damit überhaupt die Europäische Währungsunion und die gemeinsame Europäische Zentralbank zustande kommen, aber wir, der Deutsche Bundestag, behalten uns vor, später immer noch ja oder nein sagen zu können. Alles ein bisschen wilhelminisch! Der deutsche Finanzminister setzte noch einen Punkt obendrauf und sagte: »Ja, aber wir machen das überhaupt nicht, wenn nicht die Europäische Zentralbank nach Frankfurt kommt.« Auch ein bisschen wilhelminisch!
Ich erinnere darüber hinaus an den Fall, wo ein Botschafter unseres wichtigsten Nachbarlandes sich möglicherweise irgendwo im Ton vergriffen hatte und er dann durch den deutschen Außenminister »einbestellt« wurde – wie
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