Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)
werden nichts anderes sein als ein sehr vorsichtiges Vorantasten.
Ich beginne mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Großreiches und dem Zusammenbruch seines auf Europa gerichteten, aber auch auf Asien, auf Afrika und selbst auf Mittelamerika gerichteten expansiven Imperialismus. Nach meiner Einschätzung wird es mehrere Generationen dauern, bis auf dem Boden der früheren Sowjetunion sowohl geordnete, konsolidierte politische Verhältnisse als auch konsolidierte ökonomische Verhältnisse entstanden sind; 25 Jahre, ja selbst fünfzig Jahre würden mich dabei nicht überraschen.
Wenn eine Großmacht kollabiert oder wenn eine Großmacht eliminiert wird, so dauern Konsolidierung und Nachwirkungen sehr, sehr lange. Man denke an den endgültigen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Jahre 1919 . In Bosnien ist die Konsolidierung heute noch nicht eingetreten. Man denke an das Ende der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie im selben Jahre. Man schaue sich Kroatien an oder Slowenien. Bis heute ist dort eine endgültige Konsolidierung nicht eingetreten. Oder man denke an die schnell zusammengeraubten Militärreiche Hitlers oder Japans, beide 1945 zum Ende gebracht. Bis heute sind weder die politischen noch die psychischen Folgen ihrer Beseitigung wirklich ausgestanden oder überwunden. Oder ein anderes Beispiel: das British Empire der Königin Victoria – mit englischer Staatsklugheit schrittweise demontiert! Aus den Kolonien wurden zuerst Dominions, dann bekamen die Dominions eine gewisse Selbständigkeit, dann wurden sie souveräne Staaten. Aber auch englische Staatsklugheit hat nicht verhindern können, dass Teile des früheren British Empire sich anschließend gegenseitig in den Haaren lagen – um einen sehr vorsichtigen Ausdruck zu gebrauchen –, sich gegenseitig umklammerten, gegeneinander Kriege führten, so in Schwarzafrika und so insbesondere in Südasien.
Es kann also auch auf dem Boden der früheren Sowjetunion sehr, sehr lange dauern, bis eine gewisse Ordnung erreicht wird und bis für die Regierungen, die mit den Nachfolgestaaten zu tun haben, prognostizierbare Entwicklungen eintreten. Das gilt besonders auch für die Russische Föderation: 160 – 165 Millionen Menschen und beinahe hundert Nationalitäten. Bei alledem bleibt Russland trotz seiner offenkundigen gegenwärtigen politischen und ökonomischen Schwäche eine Weltmacht: aus Gründen der regionalen Ausdehnung, aus Gründen der ungeheuren Bodenschätze, auch aus Gründen seiner militärischen Macht. Noch heute liegt die Zahl der auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion vorhandenen nuklearen Waffen beispielsweise weit, weit über 10 000 . Damals gab es nur die eine Nuklearmacht Sowjetunion. Jetzt gibt es davon vier: nämlich Russland, die Ukraine, Kasachstan und Weißrussland.
Eine der Folgen des Zusammenbruchs des sowjetischen Imperialismus sehen wir auf dem Balkan. Für Tito war es eines seiner Herrschaftsinstrumente, mit dem er den künstlichen Vielvölkerstaat zusammenhalten konnte, der damals Jugoslawien geheißen hat, dass er immer hinweisen konnte auf die latente sowjetische Drohung der Invasion.
Eine andere Folge sehen wir im sogenannten Nahen Osten. Der Handschlag zwischen Rabin und Arafat wäre niemals möglich gewesen, wenn es die Sowjetunion und ihr häufiges Veto noch gäbe.
Oder man schaue nach Zentralasien, wo wir konkurrierende Einflussnahmen durch die Russen, durch die Türken, durch die Chinesen, durch die Pakistanis und durch die Iraner erleben werden.
Ich werde auf Russland später noch einmal zurückkommen und möchte mich zunächst mit Deutschland befassen, dessen Vereinigung, ebenso wie der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Welt verändert hat.
Wenn wir in der deutschen Geschichte zurückschauen, etwa über zehn Jahrhunderte, seit dem allerersten Anfang der Nationbildung in Deutschland – der ja ungefähr gleichzeitig in Deutschland stattgefunden hat wie in Polen, wie in England, wie in vielen europäischen Nationen –, etwa zur Zeit Ottos I.; wenn wir also zurückblicken über diese Spanne von mehr als zehn Jahrhunderten, dann hat die ungewöhnliche und im Grunde schicksalhaft unglückliche geopolitische Lage Deutschlands in der Mitte dieses schmalen Kontinents über all die Jahrhunderte eine Folge von kriegerischen Auseinandersetzungen mit sich gebracht.
Wenn die Deutschen sich stark fühlten, stießen sie aus dem Zentrum in die Peripherie Europas vor: im Mittelalter überwiegend nach Italien,
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