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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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braucht sich niemand mehr zu fürchten. Wohl aber müssen wir aufpassen, dass sich im Westen nicht der irreführende Irrtum ausbreitet, »der Kapitalismus« habe gesiegt. In Wahrheit hat der Wille zu Freiheit und Menschenrechten die Macht der Sowjetunion zum Einsturz gebracht. Es kommt nicht darauf an, Kapitalismus über die Welt auszubreiten; vielmehr ist es nötig und möglich, am Markt und ebenso an sozialer Gerechtigkeit orientierte, demokratische Wirtschafts- und Staatsordnungen aufzubauen.
    In ihrer zukünftigen Zusammenarbeit werden alle Staaten gemeinsam noch Jahre brauchen, bis die Fortentwicklung des internationalen Rechtes eine Harmonie gefunden hat – genauer: eine praktikable Kompatibilität zwischen dem Prinzip der Unverletzbarkeit souveräner Staaten (und des Gewaltverzichtes à la Helsinki und deutscher Ostpolitik), dem Prinzip der Selbstbestimmung ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten und den Prinzipien der Menschenrechte. Gegenwärtig scheint nicht einmal ein Fall von Völkermord eine Intervention von außen zu rechtfertigen.
    Am Ende dieses blutigen Jahrhunderts hat fast der ganze Kontinent sich der Freiheit zugewandt. Das Bewusstsein von der Gemeinsamkeit der europäischen Kultur, zu der – einzigartig in der Weltgeschichte – die Völker verschiedenster Herkunft und Sprache beigetragen haben, tritt allenthalben hervor. Welch eine großartige Chance! Gemeinsam können wir in Europa Zentimeter für Zentimeter jene Umstände und Haltungen beseitigen, aus denen vermeidbares menschliches Leiden erwächst.

Europa in der Krise
    Fehler und Versäumnisse seit dem Vertrag von Maastricht

Europa und die Deutschen in einer sich ändernden Welt ( 1994 )
    Im November 1994 hielt Helmut Schmidt auf dem Forum der Zeitschrift »Internationale Politik und Gesellschaft« eine Rede, in der er im Zusammenhang mit unbedachten Äußerungen und sich häufenden Ungeschicklichkeiten der Regierung Kohl nachdrücklich vor deutscher Überheblichkeit warnte. Bereits die damals vielzitierte Formel vom »Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten« berge enorme Gefahren für die Integration des Ganzen. Wilhelminischer Größenwahn schließlich könne leicht zu Koalitionsbildungen unter unseren Nachbarn und zu einer gefährlichen Isolation Deutschlands führen. Und schon zu diesem frühen Zeitpunkt – ein Jahr nach Inkrafttreten des Maastricht-Vertrages, den er einen »Kraut-und-Rüben-Vertrag« nannte – sprach Schmidt von einer »Post-Maastricht-Krise«.
    E uropa in einer sich ändernden Welt und die Deutschen in einer sich ändernden Welt, das ist ein Doppelthema. Man könnte getrennt sowohl die zukünftige Rolle Europas als auch die zukünftige Rolle Deutschlands diskutieren. Die Verknüpfung dieser beiden Themen macht aber durchaus Sinn. Ich hoffe, dies deutlich machen zu können. Aber die Verknüpfung zwingt auch zur Weglassung wichtiger Aspekte und Gedanken.
    Ein Wort will ich jedoch ganz klar und sehr deutlich vorausschicken: Ich kann weder allgemein außenpolitisch noch europapolitisch, noch weltpolitisch eine besondere Verantwortung der gegenwärtigen Bundesregierung erkennen, die sich von der Verantwortung der Opposition unterscheidet. Das Gleiche gilt für die deutsche Publizistik und für die Medien. Wir Deutschen insgesamt stehen gegenüber unseren Nachbarn, gegenüber dem Prozess der europäischen Integration und gegenüber der Welt alle in der gleichen Verantwortung.
    Aber unsere Verantwortung ist heute ungleich größer, als sie noch vor fünf Jahren gewesen ist. Weil erstens Deutschland mit über 8 o Millionen Menschen nach Russland heute – gemessen an der Bevölkerungszahl – der größte Staat Europas geworden ist; und weil zweitens inzwischen der Kollaps des sowjetischen Imperiums wie auch die Befreiung einer Reihe von Staaten, die bisher direkt oder indirekt von Moskau aus beherrscht gewesen sind, stattgefunden haben. Die unter dem Ost-West-Gegensatz bis 1989 / 90 sehr einfach zu verstehende Bipolarität Europas und der Welt ist abgelöst worden durch eine schwer zu durchschauende und noch schwieriger zu prognostizierende Vielfalt. Es ist deshalb in meinen Augen kein besonderes Wunder, dass sich die Regierungen in Paris oder in London oder in Bonn oder auch in Washington in einer Situation der Unklarheit befinden; auch ihre Außenpolitik ist entsprechend unklar. Jedermann grübelt, und jedermann tastet sich ganz vorsichtig an Problemlösungen heran. Auch meine Überlegungen hier

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