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Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition)

Titel: Mein Europa: Mit einem Gespräch mit Joschka Fischer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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der hochfahrende terminus technicus heißt – und mit Fleiß dann dem eigenen Pressereferenten aufgegeben wurde, diese Einbestellung öffentlich kundzutun. Alles ein bisschen wilhelminisch!
    Oder denken Sie an das Begehren der gegenwärtigen Regierung – oder korrekterweise des Außenministers, ich will den Kanzler hier nicht reinziehen, er hat sich da sehr zurückgehalten –, Deutschland müsse in Zukunft ein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sein. Seitdem die Charta der Vereinten Nationen geschaffen wurde, gibt es fünf ständige Mitglieder, das sind die damaligen und heute noch einzig anerkannten Atommächte der Welt: nämlich USA , Russland, China, Frankreich und England. Sie haben auch alle fünf in diesem Gremium ein Vetorecht. Nun wollen wir Deutsche das auch. Wozu eigentlich? Wahrscheinlich um die Franzosen zu erfreuen oder um die Engländer zu erfreuen? Und wie ist das mit dem Vetorecht? Wollen wir davon irgendwann einmal Gebrauch machen? Wie verträgt sich dieses Verlangen eigentlich mit den Interessen der Inder, über neunhundert Millionen Menschen? Oder mit denen der Indonesier, beinahe zweihundert Millionen Menschen? Oder mit den Pakistanis oder Bangladeschis oder mit den Nigerianern oder den Brasilianern? Alles Staaten mit einer weit größeren Bevölkerungszahl als wir. Was soll das? Zu wessen Freude wird das in die Welt hinausposaunt? Ganz abgesehen davon, dass die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Drittel der 184 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gemeinsam dafür die Charta der UN ändern wollen, mir nicht sonderlich hoch erscheint. Auch ein bisschen wilhelminisch!
    Aus der Entstehungsgeschichte des europäischen Integrationsprozesses – der anfängt mit dem französischen Angebot durch Monnet und durch Schuman, aus dem sich die EGKS , die Römischen Verträge, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und später die Europäische Union entwickelt haben – muss eigentlich jeder Deutsche lernen, dass nichts wichtiger ist für den ganzen Integrationsprozess und für die Einbindung der Deutschen in die Integration als die enge Kooperation mit Frankreich. Ich beeile mich hinzuzufügen: und in Zukunft die enge Kooperation mit Polen. Denn das sind unsere beiden wichtigsten Nachbarn.
    Mir kommt es reichlich töricht vor, wenn in dieser Lage deutsche Politiker davon schreiben, dass es verschiedene Geschwindigkeiten geben werde bei der weiteren europäischen Integration und dass Deutschland die »Führungsmacht« sein werde für einen mitteleuropäischen Kern der Union und Frankreich die Führungsmacht für einen lateinischen oder mittelmeerischen Kern der Europäischen Union. Dies hieße, Deutschland und Frankreich einander gegenüberzustellen. Ganz abgesehen davon, dass es sicherlich nicht zur Freude der Italiener oder der Spanier gerät, wenn sie das lesen, und nicht zur Freude der Tschechen oder Polen. Das alles, genauso wie das von uns nicht höflich, aber hörbar zurückgewiesene Angebot des amerikanischen Präsidenten zu einer Kooperation »in leadership« – als wenn wir das wichtigste Land in Europa wären und die Führung auszuüben hätten – macht mich besorgt.
    Für jemanden, der die europäische Entwicklung verfolgt hat in den letzten 45  Jahren, ist es nichts Neues, dass die Integration sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten entwickelt hat. Das muss man nicht ausdrücklich bestätigen, es war so. Sogar der Maastrichter Vertrag sieht ausdrücklich verschiedene Geschwindigkeiten für verschiedene Politikbereiche vor. Im Maastricht-Vertrag steht, einige Staaten können unter bestimmten Bedingungen ein gemeinsames Währungssystem ins Werk setzen, und andere Staaten können daran noch nicht teilnehmen, weil sie die Bedingungen noch nicht erfüllen. Warum muss man aber darüber räsonieren?
    Die europäische Integration hat seit 1950 einen langen Prozess hinter sich. Wir haben im Laufe dieser 44  Jahre immer wieder Rückschläge, sogar große Krisen erlebt. Die erste große Krise kam schon wenige Jahre nach dem Schuman-Plan, als das französische Parlament die Europäische Verteidigungsgemeinschaft abgelehnt hat, dies war 1954 . Die nächste Krise kam ein halbes Jahrzehnt später, als de Gaulle sagte: »Nein, wir wollen euch Engländer nicht drinnen haben.« Die nächste Krise kam in der Mitte der sechziger Jahre, als de Gaulle seinen Ministern verbot, an den EG -Ratssitzungen teilzunehmen, die Politik des sogenannten leeren Stuhls; und so weiter und so

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