Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
eine abgelegte Option. Mit ihrem Eintritt in den Katastrophenschatten haben sie sich gegen den tragischen und epischen Stil des Daseins entschieden. Sie haben eine Form der Koexistenz gewählt, in der die Zivilisierung die Tragödie ersetzt und die Negotiation das Epos. In einer anderen Perspektive würde man sagen, die Europäer betrieben keine Kriegsvorbereitung mehr, vielmehr beschäftigte sie nur noch die Sorge um die Konjunktur. Sie haben den militärischen Göttern abgeschworen und eine Bekehrung vom Heroismus zum Konsumismus vollzogen.
Man erkennt an diesen sehr abstrakten Thesen, wie das im Titel des Versuchs auftauchende Wort »Nachkriegszeit« eine gegenüber dem Alltagsgebrauch verschobene Bedeutung annimmt. Tatsächlich möchte ich die Funktion der Nachkriegszeiten für die Selbstregulierung von Kulturen in den Vordergrund rücken und zeigen, in welchem Maß die Interpretation der Kriegsresultate durch die kriegführenden Einheiten für deren Selbstkonzepte ausschlaggebend sind. Hervorzukehren ist hierbei, wie stark die unterschiedlichen Haltungen von Siegern und Besiegten zu den Tatsachen von Sieg und Niederlage ihre Sprach- und Lebensformen in den Zeiten danach durchdringen. Bei dieser Betrachtung werden sich die etwas überhöhten Verallgemeinerungen der eingangs präsentierten Thesen in diskretere Aussagen über lokale Nachkriegskulturen auflösen. Dann kann man die Optik auf deutsche und französische Phänomene scharfstellen und schließlich die sogenannten Verhältnisse zwischen beiden erörtern, falls von solchen die Rede sein kann – ich deute hier bereits meine Schlußthese an, die lautet: Es kann aufgrund der zu charakterisierenden stark abweichenden Nachkriegsprozesse in beiden Ländern keine Beziehungen zwischen ihnen geben, und ihr Verhältnis, das offiziell in einem Freundschaftsvertrag codifiziert ist, wäre günstigstenfalls als das einer wohlwollenden gegenseitigen Nicht-Beachtung oder einer benignen Entfremdung zu bezeichnen, wie man sie manchmal zwischen ehemaligen Liebespartnern findet – und warum auch nicht zwischen ehemaligen Haßpartnern.
Zu den Merkmalen der nach-tragischen und nach-epischen Lebensform, die sich die Europäer nolens volens zu eigen gemacht haben, gehört die weitverbreitete Empfindung, in einer entwirklichten Wirklichkeit zu leben, in der es keine ernstzunehmenden Ereignisse mehr gibt. Die einzige Ausnahme hiervon bildet die Sequenz von politischen Szenen in den Jahren 1989 bis 1991, die wir im Rückblick unter der Überschrift »Zusammenbruch des Kommunismus« resümieren – doch auch diese Begebenheiten, die tief in die Biographien der zwischen 1930 und 1975 Geborenen einschnitten, waren bloß ein verzögertes Nachspiel zu der abgewählten tragisch-epischen Periode. Das letzte Großereignis läßt sich mit einem hängengebliebenen Brief vergleichen, der in der Geschichte abgeschickt wurde, seinen Empfänger jedoch erst in der Nach-Geschichte erreichte. Man darf hierzu das Schicksal des Langzeitastronauten Sergej Krikalev assoziieren, der sich 1990/1991 auf der Raumstation Mir befand, so daß er, der noch aus der Sowjetunion ins All gestartet war, sich bei der Landung im neuen Rußland wiederfand.
Als Kompensation für den post-historischen Ereignis-Entzug, der zu den insgesamt positiv zu wertenden, wenn auch schwer verständlichen Merkmalen des neuen modus vivendi gehört, hat die zeitgenössische Zivilisation eine Reihe von Surrogaten hervorgebracht, die sich auf allen Ebenen bemerkbar machen, die Differenz von Hochkultur und Massenkultur überspringend. Ich nenne hier nur zwei Ausprägungen dieser Tendenz, die besonders ins Auge fallen: zum einen die Allgegenwart des Prinzips Inszenierung in der zeitgenössischen Event-Kultur, zum anderen jene Ersetzung von Ereignissen durch Erinnerungsereignisse, die zu einer blühenden Jubiläumsindustrie geführt hat – einer hohen Küche, in der nur Aufgewärmtes zählt. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, füge ich hinzu: Diese Tendenzen, Auswüchse eingerechnet, sind ein Teil des Preises, den man für die Emanzipation vom Heroismus und Tragizismus zu entrichten hat. Man zahlt ihn willig, wenn man bedenkt, wie die historischen Alternativen dazu auszusehen pflegten.
Ich erlaube mir nun meinerseits einen Exkurs in die Jubiläumskultur und weise auf ein Erinnerungsereignis hin, dem wir auf beiden Seiten des Rheins entgegensehen. Zwar ist es noch viereinhalb Jahre von uns entfernt, aber sofern man
Weitere Kostenlose Bücher