Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
im Lichte eines generalisierten Modells stress-erzeugter Kollektivbildungen zu durchdringen. Dieses Unternehmen, das in seinem beschreibenden Teil auch den Titel The Selfish Culture tragen könnte, wird zunächst an Beispielen aus der alteuropäischen Kriegskulturgeschichte erläutert, beginnend mit der griechischen Phalanx, um schließlich Zug um Zug seine ethischen Implikationen zu entfalten – bis hin zu dem hochgreifenden Modell der »zivilisierenden Beeinflussung« von Kulturen durch die Umorientierung zu postheroischen Werten und zu einer Ästhetik des Unterlassens.
Im Mittelpunkt des neuen kulturdynamischen Erklärungsmodells findet man eine Theorie stressorischer Prozesse, wie sie Anfang der neunziger Jahre im Umfeld von Bazon Brocks Wuppertaler Schule in Anlehnung an die von Hans Seyle eingeführte Unterscheidung von eustressorischen und dysstressorischen Phänomenen diskutiert wurde. Mühlmanns ingeniöse Idee bestand darin, die Stress-Analyse für die Erklärung der Möglichkeit sozialen Zusammenhalts unter Höchstbelastung einzusetzen. Er gelangte dabei zu einer überaus originellen Vision von der Geburt der konfliktresistenten und generationenübergreifend lernfähigen Kulturgruppen aus dem Geist der eustressorischen Kooperation. Sie bildet das Basistheorem von Mühlmann, das er lapidar das MSC -Modell nennt – das Sigel MSC steht für Maximal-Stress-Cooperation oder eustressorische Fitness in Erfolgsgruppen. Kulturen sind demnach Entitäten, deren Kontinuität horizontal durch MSC -Tauglichkeit und vertikal durch memoaktive Fitnessprozeduren ( vulgo Traditionsbildung dank Erziehung) sichergestellt wird. In alltäglicher Ausdrucksweise sagt das nichts anderes, als daß Gruppengebilde, die es auf Langzeiterfolge anlegen, die Fähigkeit besitzen müssen, ihre existentiellen Krisen durch Höchstleistungen an Kooperation unter hohem Druck zu meistern (was in der Regel Bewährung im Krieg mit konkurrierenden Kulturen bedeutet). Zugleich sind sie auf die immer wache Kompetenz angewiesen, aus den Resultaten ihrer Konflikte mit anderen Gruppen, insbesondere aus Niederlagen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen und im kulturellen Gedächtnis zu verankern. Hier wird, durch die systemtheoretische Verfremdung hindurch, ein modernes Echo des platonischen Webergleichnisses wahrnehmbar, nach welchem die Staatskunst beziehungsweise die königliche Kunst darin bestehe, die tapfere und die besonnene Gemütsart ( andreia und sophrosyne ) im Gewebe des Gemeinwesens zu einem belastbaren Ganzen zusammenzuflechten. 1
Nach dem Gesagten sollte verständlich sein, warum im Rahmen einer solchen Theorie den Nachkriegszeiten eine herausragende Bedeutung für die Moderierung oder Steuerung kultureller Einheiten zukommt. Am Ende von kriegerischen Konflikten – Mühlmann spricht von einer post-stressorischen Entspannungsphase und von der Selbstprüfung der Kombattanten im »Stress-Schatten« – ist nämlich bei den Siegern wie den Besiegten eine Evaluierung der eigenen kulturellen Prämissen im Lichte der Kampfergebnisse unvermeidlich. Dabei legen die Sieger ihr Resultat in der Regel als Verstärkungssignal aus und fühlen sich in ihrem »Decorum« bestätigt, während die Besiegten – sofern sie nicht in Leugnungen, Ressentiments und die dazugehörigen Ausreden flüchten – Anlaß haben, die Gründe ihres Mißerfolgs zu erforschen. Dies kann zu umstürzenden Veränderungen des kultureigenen Decorums, das heißt des Inbegriffs von lokal verbindlichen Normen und Lebensformen, führen, wenn und insofern die Selbstprüfung der Verlierer zu dem Schluß gelangt, die Niederlage beruhe nicht allein auf der Stärke des Gegners, sondern sei begründet in der selbstverschuldeten Schwäche, der Unangepaßtheit des eigenen Verhaltens an die Lage, im ernstesten Fall sogar in der eigenen Hybris, ja in einer verfehlten Stellung zur Welt. Verfahren dieser Art münden entweder dank moralischer, kognitiver und technischer Nachrüstung in Reformen (wie sie in eklatanter Weise in Preußen nach der Niederlage von Jena 1806 zustande kamen). Oder man faßt in der Phase der post-stressorischen Besinnung den Beschluß, sich mit der Siegerkultur in einer Friedensordnung höherer Stufe zusammenzuschließen – wie es die Deutschen nach 1945 praktizierten, als sie das Leitwort »Westintegration« als Handlungsmaxime ausriefen. Für diese Bereitschaft zur Umformung der als schädlich erkannten Kulturregeln in weniger schädliche Muster verwende ich im
Weitere Kostenlose Bücher