Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sich zu gefährlichen Themen hingezogen fühlt und überdies gern im Kalender für Kulturschaffende vorwärts blättert, wird man bemerken, wie es schon jetzt einen Schatten vorauswirft, zumindest den Schatten eines Schattens. Wenn wir also über deutsch-französische Beziehungen sprechen, ungeachtet der Tatsache, daß es aktuell zum Thema nichts zu sagen gibt, was nicht vom Tonband kommen könnte, so nur deswegen, weil wir uns schon jetzt Gedanken machen können über die Dinge, die bei dem bevorstehenden Ereignis anstelle des vergangenen Ereignisses, dem Jubiläum im Jahr 2012, mit starkem Grund in der Sache zu formulieren sein werden – und diese Dinge werden weithin unausgesprochen und einigermaßen dringlich sein. Am 8. Juli des genannten Jahres wird sich zum fünfzigsten Mal der Tag jähren, an dem Franzosen und Deutsche, vertreten durch ihre für diesmal mit vollem Recht so bezeichneten Staatsmänner Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, in der Krönungskathedrale von Reims dem Versöhnungsgottesdienst beiwohnten, der den wenig später unterzeichneten deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vom Januar 1963, den sogenannten Elysée-Vertrag, vorwegnahm. Die feierliche Handlung, die wir, wenn es soweit ist, in zeitgemäßer Besetzung nachspielen werden, geschah seinerzeit unter den höchsten symbolischen Vorzeichen, die unseren gemeinsamen Traditionen zu entnehmen waren. Das Te deum von Reims, zelebriert in Anwesenheit von Erzbischof François Marty, vollzog sich damals unter dem Baldachin des alteuropäischen katholischen Universalismus – an diesen wandte man sich, und sei es auch nur einen sentimentalen Augenblick lang, um das Zeitalter der historischen Exzesse zwischen unseren Völkern, die Ära der den Rhein in beiden Richtungen überschreitenden Infektionen und Mobilisationen, der Eifersuchtsmorde und bewaffneten Massenhysterien für beendet zu erklären.
Man kann sich schon heute ziemlich genau vorstellen, wie sich die Festlichkeiten um den 8. Juli 2012 in Reims, in Paris, in Berlin und anderen Brennpunkten abspielen werden. Das Protokoll schreibt den Politikern ihre dann zu vollziehenden Schritte in einer Genauigkeit vor, die für neue Gesten keinen Raum offenläßt. Es gehört fast keine Phantasie dazu, um sich die Reden vorzustellen, die man von beiden Staatspräsidenten sowie von den übrigen Diensthabenden aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Religion hören wird. Etwas mehr Phantasie würde man benötigen, um die Frage zu beantworten, ob Philosophen und Kulturwissenschaftler aus den tangierten Ländern etwas zu diesem Jubiläum werden beitragen können und falls ja, in welcher Weise. Was ich im folgenden andeute, läßt sich am besten als Vorübung für einen philosophischen Kommentar zu den kommenden Gedenktagen begreifen. Eine solche Stellungnahme müßte in ausgeführter Form die tausendjährige deutsch-französische Rivalität rekonstruieren – von der Reichsteilung unter den Nachkommen Karls des Großen bis zu ihrer Auflösung im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts.
2 Heiner Mühlmanns
Maximal-Stress-Cooperation-Theorem
Von diesem anspruchsvollen Vorhaben berühre ich nur einige Punkte, und selbst diese bloß auf flüchtige und vorläufige Weise. Ich beschränke meinen Betrachtungszeitraum auf die zurückliegenden 200 Jahre, genauer gesagt die Ära, die auf die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege folgte, und enge diesen dann weiter ein auf die Epoche nach 1945. Beide Zeitspannen sind im eminenten Sinn des Wortes als Nachkriegszeiten zu verstehen, zunächst was die chronologischen und, mehr noch, was die mentalen oder psychopolitischen Verhältnisse angeht.
Im Gang meiner Darlegungen ist nun der Moment gekommen, in dem ich mich zu dem Ausdruck »Nachkriegszeit« erklären muß. Schon aus den bisherigen Verwendungen des Worts geht hervor, daß ich Gründe sehe, es nicht nur alltagssprachlich zu gebrauchen, sondern mit ihm anspruchsvollere Zusatzbedeutungen zu verbinden. Die werden erkennbar, sobald wir den Terminus in den Kontext einer allgemeinen Theorie über die »Natur der Kulturen« versetzen. Die Fügung »Natur der Kulturen« geht auf den Kulturtheoretiker Heiner Mühlmann zurück, der mit dem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1996 in vorerst noch engen Kreisen von Systemtheoretikern, Polemologen, Mediologen und Neuro-Rhetorikern Aufsehen erregt hat. Die Arbeit Mühlmanns ist dem äußerst ambitionierten Vorsatz gewidmet, den Zusammenhang von Krieg und Kultur
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