Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Instrument des Fetischs Revolution sein wird. Das ist der Bruch, den Althusser im Marxschen Werk nach der Deutschen Ideologie herausgelesen hat. Schon früh, spätestens seit der Stirnerpolemik, beginnt im Marxschen Denken eine Tendenz, sich selbst quasi in der Haltung von Revolutionsjesuiten an den Prozeß der geschichtlichen Entwicklung anzuketten, in der Meinung, die Entwicklung sowohl erkennen als auch unterwerfen zu können. Die Marxsche Theorie verspricht sich Herrschaft, indem sie das Subjekt der Theorie als Funktion der Entwicklung denkt. Durch Selbstverdinglichung meint sie zur Beherrschung der Geschichte gelangen zu können. Indem sie sich zum Instrument der angeblichen Zukunft macht, meint sie die Zukunft zu ihrem eigenen Werkzeug machen zu können.
Diese schizoid-herrenzynische Logik ist historisch beispiellos. Nur ein extrem hochentwickeltes Bewußtsein kann sich selbst so hereinlegen. Der einzige Denker, bei dem die Selbstreflexion ähnliche Höhen raffinierter Selbstverleugnung erreichte, war Friedrich Nietzsche, dessen Wirkungsgeschichte bekannt ist.
Den philosophisch bedeutungsvollen Gipfel dieser raffinierten Selbstverdinglichung erstiegen jene tapferen alten Kommunisten, die in den Moskauer Schauprozessen angesichts des sicheren Todes falsch gestanden, gegen »die Revolution« konspiriert zu haben – ein Geständnis, das nicht bloß erpreßt war, sondern insofern einen Aspekt von Freiheit besaß, als die Angeklagten mit ihren Geständnissen von der Revolution größeren Schaden abwenden wollten als den, der ihr durch Anklage und Hinrichtung ohnehin zugefügt wurde. Mit herkömmlichen Konzepten von »Tragik« ist die Subtilität dieser Verdoppelung von Justizmorden durch Selbstmorde nicht zu erfassen. Es sind Morde, bei denen nur noch im biologischen Sinn klar ist, wer wen in Wahrheit umbringt. Es sind Morde und Selbstmorde innerhalb einer schizophrenen Struktur, wo sich das Ich, das tötet, von dem Ich, das getötet wird, nicht mehr klar unterscheiden läßt. Sicher ist nur, daß am Ende die Leichen intelligenter Menschen am Boden liegen, erwürgt, erschossen, erschlagen. Der Fall Althusser ist wohl auch ein Nachtrag zur Psychopathologie des Marxismus. Er spielt auf einer Intelligenzebene mörderischer Gewalt, auf der die Revolution ihre klügsten Kinder frißt – um nicht zu reden von den Millionen, die ums Leben kamen, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich mit dieser Revolution zu tun hatten – außer dem vielleicht, daß das, was sie tötet, nicht ganz das Wahre sein kann.
Die logische Wurzel dieser Verkehrungen hat schon 1843 der junge Marx in einem hellwachen Satz ausgesprochen, der noch vor der Verhärtungszeit steht und doch eine bereits zynische Tendenz erahnen läßt: »… der Kommunismus hat andere sozialistische Lehren … nicht zufällig gegen sich entstehen sehen, weil er selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist.« 2 In dem Wort »einseitig« spielt die hohe Ironie des Marxismus. Wer »einseitig« sagt, weiß, daß es mindestens zwei Seiten gibt und geben muß. Wer sich dann auf eine festlegt, betrügt sich selbst und andere. Nur ein Wissen, das von einem ungeheuren Willen zur Macht zerfressen ist, kann bewußte Einseitigkeit als Wahrheit ausgeben wollen. Damit dementiert es zutiefst sein eigenes Pathos der Erkenntnis. Und so ist der Kommunismus jenes Wissen der Macht, das schon aus der Schule plaudert, bevor sie am Ruder ist. Das und nur das bildet, auf philosophischer Ebene, seine Gemeinsamkeit mit dem Faschismus.
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1 P. Sl., Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt am Main, 1983, S. 87-95.
2 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1971, Bd. 1, S. 344.
Theorie der Nachkriegszeiten
1 Europa, posthistorisch
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Wenn man – von einem deutschen Beobachtungsstandpunkt aus – den Bewußtseinswandel der Europäer in der Zeit nach 1945 in einem einzigen Satz zusammenfassen sollte, müßte er summarisch folgenden Sachverhalt zum Ausdruck bringen: Die Bewohner dieses Erdteils, erschöpft von den Exzessen und Verausgabungen der Ära von 1914 bis 1945, haben den ge-schichtlichen Passionen den Rücken gekehrt, um an deren Stelle einen nach-geschichtlichen modus vivendi zu entwickeln. Unter dem Geschichtlichen verstehe ich ad hoc die Einheit aus der agierten und geschriebenen Tragödie sowie die Einheit aus dem agierten und dem geschriebenen Epos. In diesem Sinn ist für Europäer »Geschichte«
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