Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
folgenden den Ausdruck Metanoia. Er bedeutet hier nicht so sehr die christliche Buße, sondern das weltliche Umlernen im Dienste erhöhter Zivilisationstauglichkeit.
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1 Politikós, 306a-311c.
3 Europa nach Napoleon
Diese Andeutungen reichen, denke ich, aus, um verständlich zu machen, warum es für eine kulturtheoretisch gestützte Betrachtung der »deutsch-französischen Beziehungen« in jüngerer Zeit von ganz besonderer Bedeutung sein müßte, die Interaktionen beider Kulturen unter dem Blickwinkel ihrer wechselvollen Kriegsgeschicke und deren ebenso wechselvollen Nachbearbeitungen zu untersuchen.
Blickt man auf die für unsere Thematik vorrangig virulente Zeitspanne von 1806 bis 1945, hat man es mit einer Sequenz von verwickelten, zugleich kulturell produktiven Nachkriegszeiten zu tun (obschon es mit dieser Produktivität meistens eine pathologische Bewandtnis hatte). René Girard hat jüngst in seinem Buch über Clausewitz wichtige Anregungen zum Verständnis der mimetischen Austauschprozesse im deutsch-französischen Duell und dessen extremistischer Dynamik gegeben – ich komme hierauf zurück.
Es erübrigt sich zu erklären, warum ich an dieser Stelle kaum mehr als das Programm und die gröbsten Umrisse eines solchen Unternehmens formulieren kann. Begnügen wir uns mit der Bemerkung, daß der Auftritt Napoleons eine Schicksalswende in den Beziehungen beider Länder markierte. Der Folgenreichtum seiner Interventionen für den Gang der deutschen Dinge war buchstäblich unabsehbar – und wäre es möglicherweise immer noch, hätten nicht die Annäherung und Versöhnung Deutschlands und Frankreichs unter den oben erwähnten Staatsmännern die Ketten dieser fatalen Affaire gesprengt. Napoleon ist ja aus deutscher Sicht nicht nur der Liquidator des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, nicht nur der Mann, dessen militärisches Genie Österreich und Rußland in der Schlacht von Austerlitz 1805 bezwang, auch nicht allein der Sieger von Jena und Auerstedt 1806 – kurzum nicht nur der von Clausewitz so genannte »Kriegsgott«, durch dessen Intensität das revolutionär aufgewühlte Frankreich es zuwege brachte, aus der faszinierendsten seiner inneren Angelegenheiten, dem Übergang von der Monarchie in die Republik, eine äußere Angelegenheit zu machen und darüber hinaus einen globalen messianischen Feldzug zur Verbreitung der französischen Prinzipien in der Gestalt eines allgemeinen Eroberungskriegs zu lancieren. Er wurde vielmehr dadurch schicksalhaft, daß er das epochal wirksame Muster des Genie-Politikers aufstellte, der fatalerweise aufgrund seiner Erfolge die Saaten des Ressentiments und der von Haßliebe genährten Nachahmungsrivalität ausstreute, und zwar in allen von ihm attackierten europäischen Ländern, vom Atlantik bis zum Ural.
Will man dem Ausdruck »Nachkriegszeit« mit Blick auf die gesamteuropäische Entwicklung nach 1815 seine volle Bedeutung geben, so kommt man um die Feststellung nicht herum: Die von den französischen Angriffen ausgelösten Reaktionsketten erstreckten sich, wie auch immer mit regionalen Bedingungen vermittelt, über mehr als 150 Jahre, am wirksamsten in den antiliberalen und antimodernen Strömungen in Deutschland, die bis zum Selbstmord Hitlers im Frühjahr 1945 reichten, und in Spanien, wo die Blockade gegen die politische und kulturelle Moderne bis zum Tod Francos Ende 1975 anhielt. Zu diesem Sinn von »Nachkriegszeit« gehört die Beobachtung, daß das Vor- und Schreckbild Napoleon in der Kunst, in der Philosophie und in der Politik Europas weit über ein Jahrhundert lang virulent blieb. Auch in klinischer Sicht geht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zahl der Patienten, die sich für Napoleon halten, konstant zurück, in den geschlossenen Anstalten zumindest. Wie der Korse in der offenen Szene weiterwirkt, davon hat André Glucksmann in einem Kapitel seiner politischen Autobiographie, über das er nicht ohne bitteren Humor den Titel »A nous deux, Napoléon!« setzte, ausführlich Rechenschaft gegeben. Man erfährt hier, welcher Preis noch bis vor kurzem zu entrichten war, bis ein französischer Adoleszent von der Seuche der »Napoleonitis« geheilt war – die homöopathische Behandlung durch den Maoismus inbegriffen. 2 Historiker der politischen Ideen haben zu Recht die Tatsache herausgestellt, daß es bei der Nachbearbeitung des Napoleon-Schocks in den am tiefsten betroffenen europäischen Ländern zur Abspaltung der
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