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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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character überspannt.
     
    Es gibt im Grunde nur zwei Verfahren, einem Denker Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das eine besteht darin, seine Werke aufzuschlagen und ihm in den Bewegungen seiner Sätze, im Fluß seiner Argumente, in der Architektonik seiner Kapitel zu begegnen – man darf dies eine singularisierende Lektüre nennen, bei welcher Gerechtigkeit als Assimilation an das Einmalige ausgelegt wird. Sie läge ganz besonders nahe bei einem Autor wie Derrida, der nie etwas anderes sein wollte als ein radikal aufmerksamer Leser der großen und kleinen Texte, deren Summe das okzidentale Archiv konstituiert – vorausgesetzt, man mißt dem Wort Leser eine hinreichend explosive Bedeutung zu. Das andere Verfahren geht vom Text zum Kontext über und zeichnet den Denker in überpersönliche Horizonte ein, aus denen etwas über seine wahre Bedeutung hervortritt – auf die Gefahr hin, daß sein eigener Text weniger Gewicht erhält als der größere Zusammenhang, in dem seine Worte Widerhall hervorrufen. Diese Vorgehensweise läuft auf eine desingularisierende Lektüre hinaus, bei der man Gerechtigkeit als Sinn für Konstellationen versteht. Derrida selbst bevorzugte eindeutig den ersten Weg und versprach sich vom zweiten in der Regel nicht viel Gutes, da er nur zu genau wußte, daß letzterer vor allem für Leute attraktiv ist, die es sich mit ihm zu leicht machen wollten. So setzte er sich aus gegebenem Anlaß, höflich und deutlich, gegen den Versuch von Jürgen Habermas zur Wehr, ihn zu einem jüdischen Mystiker zu erklären. Mit feiner Ironie bemerkte er in Antwort auf diese unbequeme Identifizierung: »... also verlange ich auch nicht, daß man mich liest, als ob man sich vor meinen Texten in eine intuitive Ekstase versetzen könnte, aber ich verlange, daß man vorsichtiger mit den Vermittlungen ist, kritischer bei Übersetzungen und Umwegen über Kontexte, die oft sehr weit von meinen entfernt sind.« 1
     
    Wenn ich mich, diese Warnung im Gedächtnis, für den zweiten Weg entschieden habe, so aus zwei sehr verschiedenen Gründen. Zum einen weil ich denke, an ekstatisch-buchstäblichen, um nicht zu sagen hagiographischen Derrida-Lektüren in aller Welt bestehe ohnehin kein Mangel; zum anderen weil ich den Eindruck nicht loswerden kann, daß man bei all der berechtigten Bewunderung für diesen Autor nur selten auf ein hinreichend distanziertes Urteil über seine Stellung im Feld der zeitgenössischen Theorie trifft. Die Forderung nach Distanz steht hier im Dienst der Wertschätzung, denn wenn man sie auch als Gegengift gegen die Gefahren einer kultischen Rezeption verstehen darf, so ist sie doch erst recht vonnöten, um sich von dem geistigen Gebirgszug ein Bild zu machen, in dem la montagne Derrida als eine der höchsten Erhebungen aufsteigt. Ich skizziere im folgenden sieben Vignetten, in denen der Denker zu Autoren der jüngeren Tradition und der Gegenwart in Beziehung gesetzt wird: Es sind dies Niklas Luhmann, Sigmund Freud, Thomas Mann, Franz Borkenau, Régis Debray, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Boris Groys.
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    1 Jacques Derrida, in: Florian Rötzer, Französische Philosophen im Gespräch, München 1987, S. 74.

    1 Luhmann und Derrida
    Von allen möglichen Konstellationen, in die das Werk von Derrida versetzt werden kann, ist die mit dem Œuvre Luhmanns die befremdlichste, doch zugleich auch die aufschlußreichste. Von beiden Denkern ist das Höchste und Problematischste gesagt worden, was von einem Autor auf dem Feld der Theorie behauptet werden kann: daß er der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Nun mögen Titulierungen dieser Art für die äußere Reflexion reizvoll und für die Public Relations nützlich sein, ein ernsthaftes Interesse läßt sich mit ihnen kaum verbinden. Dennoch besitzen sie im Blick auf die beiden genannten eminenten Figuren eine gewisse charakterisierende Kraft, insofern »Hegel« nicht nur ein Eigenname ist, sondern auch ein Programm darstellt bzw. eine Position in einem Bildungsprozeß bezeichnet. Wer Hegel sagt, meint Kulmination, Non-plus-ultra und Erschöpfung; zugleich steht der Name für synthetische und enzyklopädische Energien, wie sie nur in der Ruhe nach dem Sturm – oder um nahezu mit Kojève und Queneau zu reden: am Sonntag nach der Geschichte – auftreten können. In diesem Namen koinzidieren imperiale und archivarische Ambitionen.
     
    Es wäre selbstverständlich völlig sinnlos, Derrida und Luhmann im einzelnen auf ihre jeweils eigentümliche

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