Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Hegelianität untersuchen zu wollen. Auch waren beide keineswegs Denker des Sonntags, vielmehr, ganz im Gegenteil, unentwegte Arbeiter, die den Sonntag zum Werktag machten, buchstäblich und aus prinzipiellen Gründen, und ansonsten überzeugt waren, an Feiertagen erledige man private Post oder schweige. Was festzuhalten bleibt, ist die Tatsache, daß beide Denker Vollendungsarbeiter gewesen sind, die unter dem Anschein der Innovation Abschlüsse und letzte Retouchen am fertigen Bild einer nicht weiter dehnbaren Überlieferung ausgeführt haben. Nicht ganz ohne Ironie ist heute festzustellen: All jene haben sich getäuscht, die meinten, mit der Dekonstruktion und der Systemtheorie – Gebilde, die von den siebziger Jahren an profilscharf hervortraten – sei ein neues Zeitalter des Denkens angebrochen, das die theoretische Arbeit in unübersehbare innovative Horizonte stellte. In Wahrheit waren beide Denkformen Schlußgestalten von logischen Prozessen, die das Denken des 19. und 20. Jahrhunderts durchwirkt hatten. Im Fall von Derrida kommt die linguistische oder semiologische Wende zum Abschluß, nach welcher das 20. Jahrhundert den Philosophien der Sprache und der Schrift gehört hatte. Im Fall von Luhmann vollendet sich der durch Wittgenstein proklamierte Abschied von der Philosophie, bei dem das Denken sich resolut aus der Überlieferung der Theorien des Geistes und der Sprache zurückzieht, um sich auf dem Feld der Metabiologie, das heißt der allgemeinen Logik der System-Umwelt-Differenzen, neu in Stellung zu bringen. Beide Effekte haben mit dem Fall Hegel gemeinsam, daß sie die letzten Möglichkeiten einer gegebenen Grammatik ausschöpfen und damit den Nachfolgern das anfangs euphorisierende Gefühl ermöglichen, auf einem Höhepunkt zu beginnen. Im weiteren Verlauf muß sich dieses umwandeln in die bestürzende Entdeckung, daß, wer auf dem Gipfel startet, nur noch durch Abstieg weiterkommt.
Die Differenzen zwischen den beiden Hegeln des 20. Jahrhunderts könnten ansonsten nicht größer sein. Eine gewisse Überlegenheit Derridas drückt sich am besten in der Tatsache aus, daß er – hierin nur Heidegger vergleichbar – immer an den äußersten Rändern der Tradition operierte und sie damit, wie zerklüftet auch immer, auf seiner Seite behielt. Hieraus erklärt sich die ungeheure Wirkung seiner Arbeiten in der akademischen Welt, in der sich die Dekonstruktion als die letzte Chance einer durch Desintegration integrierenden Theorie erwies: Indem sie das Archiv entgrenzte, bot sie eine Möglichkeit, das Archiv zusammenzuhalten. Im Gegensatz hierzu hat Luhmann das philosophische Archiv verlassen und sich mit dem scheinbar bescheidenen Titel eines Soziologen der Weltgesellschaft begnügt. Für ihn hat die philosophische Bibliothek Alteuropas Bedeutung nur noch als Reservoir von verbalen Figuren, mit denen die Priester und Intellektuellen von einst nach dem Ganzen zu greifen versuchten. Aus der Sicht der allgemeinen Systemtheorie ist die Philosophie insgesamt ein erschöpftes totalisierendes Sprachspiel, dessen Instrumente dem semantischen Horizont der historischen Gesellschaften entsprachen, indessen sie der primären Tatsache der Moderne, der Ausdifferenzierung der sozialen Systeme, nicht mehr gerecht zu werden vermögen.
Es ist zu bedauern, daß die beiden Hegel des 20. Jahrhunderts nicht reziprok und ausführlich aufeinander reagiert haben. Daher besitzen wir von der virtuellen logischen Gipfelkonferenz des postmodernen Denkens kein Protokoll. Es wäre für die intellektuelle Mitwelt von unermeßlichem Reiz gewesen, zu erleben, wie die beiden eminenten Intelligenzen unseres Zeitalters in einer entfalteten Dialogsituation miteinander umgegangen wären. Da Derrida wie Luhmann außerordentlich höfliche Geister waren, hätten sie selbstverständlich der Versuchung widerstanden, das Werk des anderen reduktionistisch zu behandeln oder es gar kannibalisch zu verarbeiten, wie es ansonsten für Konkurrenten um die höchste Position im Feld intellektueller Reflexion typisch ist. Gleichwohl hätten sie den Versuch von assimilierenden, wenn auch nicht absorbierenden Übersetzungen des Anderen ins Eigene unternehmen müssen – was bei zwei Meistern der Skepsis gegen das Konzept des Eigenen eine stimulierende Übung ergeben hätte, und die Beobachter dieser reziproken Übersetzungen hätten das Privileg genossen, die gegenseitigen Beobachtungen der begriffsmächtigsten Beobachter beobachten zu können. Immerhin
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