Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
Vom Netzwerk:
abwägend und tollkühn in einem, die These, der vornehme Ägypter Moses müsse dann ein Anhänger der im 14. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von Echnaton eingeführten solar-monotheistischen Aton-Religion gewesen sein, der nach der Reaktion der Ammonpriester in seinem Heimatland und bei seinem eigenen Volk keine Aussicht mehr sah, den unpopulären neuen Glauben zu verwirklichen. Daraufhin habe er sich mit dem Fronvolk der Juden gemein gemacht, um es aus Ägypten wegzuführen – in der Absicht, an anderer Stelle und mit anderen Menschen das monotheistische Experiment noch einmal aufzunehmen. Er habe also den Juden den ägyptischen Brauch der Beschneidung, die Gewohnheiten des religiösen Hochmuts ebenso wie die Strenge gegen sich selbst beigebracht, die eine strikt monolatrische Religion von ihren Anhängern oder besser, ihren Versuchspersonen, zu fordern hat. Die Fähigkeit, gegen sich selbst streng zu sein, ist die Quelle der mentalen Wandlungen, die Freud in der Formel »Fortschritt in der Vergeistigung« zusammenfaßt.
     
    Man hat im Rahmen einer rêverie ein gewisses Recht, an diese »ungeheuerliche« Revision der jüdischen Geschichte durch den Juden Freud zu erinnern, weil sie eine Art Vorspiel zu dem darstellt, was später mit Derridas Schlüsselbegriff différance bezeichnet werden wird. Diese »Verschiebung« oder Entstellung betrifft in der Freudschen Auslegung zunächst die reale Umbesetzung der Rollen im monotheistischen Spiel – aber ebenso die Redaktion der Berichte hiervon, die stets unter der tendenziösen Auflage stehen, das Geschehene nach Möglichkeit unkenntlich zu machen. Freud sagt hierzu:
    »Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Worte › Entstellung ‹ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben.« 6
    Demnach bezeichnet die différance , von Freuds Bemerkung her gesehen, nicht nur und nicht in erster Linie den Bruch mit der vollen Gegenwart (als Modus der Zeit), sondern zunächst und vor allem die Verschiebung im Raum und die Umdisposition bei der Besetzung von Rollen in einem theologischen Theaterstück. Nach Freud wird das eigentliche ägyptische Drama von da an nie mehr in Gegenwart von wirklichen Ägyptern gespielt. Von der mosaischen Intervention an findet Ägypten selbst an anderer Stelle »statt« – das litterale Ägypten hingegen bedeutet aus der Sicht der Ausgewanderten bloß eine tote Hülle, die ausschließlich dazu dient, den Ort zu bezeichnen, von dem die Flucht in die eigene Andersheit ihren Ausgang nehmen mußte. Um ein monotheistischer Neu-Ägypter im authentisch echnatonischen Sinn zu sein, hatte man, wenn Freuds These zutrifft, in Zukunft an dem religiösen Experiment des Judentums teilzunehmen, wie der Mann Moses es entworfen hatte. Konsequenterweise hatte sich dieses für eine Travestie engagierte Volk von den Tagen des Exodus an mit dem Problem seiner ungewissen Territorialisierung zu beschäftigen, oder – um einen von Derrida sehr geschätzten Ausdruck zu verwenden – es wird von diesem Problem chronisch »heimgesucht«. Der ursprüngliche Inhalt der hantologie , sprich der Wissenschaft von der Heimsuchung durch das unerledigte Vergangene, ist damit offensichtlich (man findet dieses geniale Wortspiel in Derridas vermutlich bedeutendster politischer Arbeit: Marx’ Gespenster , wobei eine doppelte Anspielung auf die »Ontologie« wie auf Lacans Kalauer hontologie vorliegt): Er kann in nichts anderem bestehen als in den obsessiven Spuren der jüdisch-ägyptischen Ambivalenzen. Deren Quellen blieben in dem Umstand zu suchen, daß Moses die Juden, wie Freud sagte, »außer Landes führen wollte« und ihnen durch die Beschneidung eine Sitte auferlegte, »die sie gewissermaßen zu Ägyptern machte«. 7 Mit seiner Analyse der Heimsuchungen formalisiert Derrida den von Freud erläuterten Gedanken, wonach man nicht Jude sein kann, ohne in gewisser Weise Ägypten – oder ein Gespenst Ägyptens – zu verkörpern.
     
    An der späten Arbeit Freuds ist nicht nur der Vorstoß zum Begriff der »Entstellung« bemerkenswert. Sie beeindruckt mehr noch durch die unerbittliche Konsequenz, in der sie den Mythos des Exodus »dekonstruiert«. Im Rahmen

Weitere Kostenlose Bücher