Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Stil einer philosophischen Theologie der Befreiung alias Entfremdungstheorie, sondern als eine Lehre von dem Ereignis, das den einzelnen freigibt und in dem er sich selbst gestaltet und aufs Spiel setzt. Was er in einem Nachruf auf einen verstorbenen Freund, den christlichen Kantianer Maurice Clavel, bemerkte, läßt sich auch als eine hellsichtige und freimütige Charakteristik seines eigenen Unternehmens lesen: »Er stand im Herzen dessen, was es wahrscheinlich an Wichtigstem in unserer Epoche gibt. Ich will sagen: eine sehr umfassende und sehr tiefgreifende Veränderung in dem Bewußtsein, das der Okzident sich nach und nach von der Geschichte und von der Zeit gebildet hat. Alles, was dieses Bewußtsein organisierte, alles, was ihm seine Kontinuität gab, alles, was ihm seine Vollendung versprach, zerreißt. Gewisse Leute würden es gern wieder zusammenflicken. Er hingegen sagte uns, daß man – sogar heute – die Zeit anders leben muß. Vor allem heute. 1
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1 Michel Foucault. Vivre autrement le temps. In: Le Nouvel Observateur Nr. 775, 4.-6.5.1979, S. 88 (M. F., Dits et Ecrits, Band III , Paris 1994, S. 790 (deutsch: Dits et Ecrits, Band III , Frankfurt am Main, Die Zeit anders leben, S. 984-987).
Derrida ein Ägypter
Über das Problem der jüdischen Pyramide
Vorbemerkung
Nichts scheint natürlicher, als daß die Lebenden die Toten vergessen, und nichts so selbstverständlich, wie daß die Toten die Lebenden heimsuchen. Unter allen Äußerungen, die Jacques Derrida im Angesicht des Endes während des Sommers 2004 zu Protokoll gegeben hat, findet sich keine, die mir so häufig in Erinnerung kommt wie jene, in der er bekannte, hinsichtlich seiner posthumen »Existenz« von zwei völlig gegensätzlichen Überzeugungen durchdrungen zu sein – zum einen von der Gewißheit, vom Tag seines Todes an vollständig vergessen zu werden, zum anderen von der Gewißheit, das kulturelle Gedächtnis werde doch etwas von seinem Werk aufbewahren. Beide Überzeugungen, erklärte er, bestanden, gleichsam unverbunden, nebeneinander. Eine jede sei begleitet von dem Gefühl völliger Evidenz, und jede sei auf ihre Weise in sich schlüssig, ohne auf die entgegengesetzte These Rücksicht nehmen zu müssen.
Ich möchte im folgenden den Versuch machen, mich der Figur Derridas im Licht dieses Bekenntnisses zu nähern. Mir will es so vorkommen, als zeige diese Äußerung nicht einfach einen Menschen in seiner zufälligen Widersprüchlichkeit. Vielmehr besitzt sie, kraft ihrer schroffen Setzung von zwei alternierend gültigen Feststellungen, eine expressive Dimension, die etwas von Derridas philosophischer »Grundstellung« verrät – wenn man diesen Heideggerschen Ausdruck für dies eine Mal ad hominem verwenden darf. Was Derrida ausspricht, ist eine Selbstbeschreibung, der nahezu die Qualität einer metaphysischen Aussage zukommt. Er konzediert damit: Es gibt »im Realen«, was immer das heißen mag, so etwas wie nicht synthesefähige Gegensätze, die koexistieren, obwohl sie sich gegenseitig ausschließen. Weil diese Gegensätze ins eigene Denken und Erleben des Sprechers fallen und ihn bestimmen, folgt aus dieser Konzession zugleich eine Feststellung über den Philosophen, nämlich, daß er sich selber als einen Ort erfuhr, an dem das nicht zur Einheit führende Zusammentreffen von miteinander unverträglichen Evidenzen stattfand. Man könnte sich, von dieser Beobachtung ausgehend, die Frage stellen, ob das unermüdliche Beharren auf der Mehrdeutigkeit von Zeichen und der Mehrwertigkeit von Aussagen, das von der Physiognomie dieses Autors nicht wegzudenken ist, nicht auch ein Hinweis darauf war, daß er sich selbst als Behälter oder Sammelstelle von Oppositionen erlebte, die sich zu keiner höheren Einheit zusammenfügen wollten.
Mit dieser Bemerkung könnte schon die Hauptkontur für ein philosophisches Portrait Derridas gezogen sein: Seine Bahn war bestimmt von der immer wachen Sorge, auf eine bestimmte Identität festgelegt zu werden – einer Sorge, die ebenso mächtig ausgeprägt war wie die Überzeugung, sein Platz könne nur an der vordersten Front der intellektuellen Sichtbarkeit sein. Es gehört zu den am meisten bewundernswerten Leistungen dieses philosophischen Lebens, daß es die Gleichzeitigkeit von höchster Sichtbarkeit und beharrlicher Nicht-Identität mit irgendeinem fertigen Bild seiner selbst durchzuhalten wußte – in einer leuchtenden Parabel, die vier Jahrzehnte einer Existenz als public
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