Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
hat Luhmann das Werk Derridas aufmerksam registriert, während von einer entsprechenden Gegenbeobachtung Derridas nichts bekannt ist – er hat vermutlich die Arbeit des Bielefelder Gelehrten nie zur Kenntnis genommen.
Luhmann hielt Derridas Dekonstruktion der metaphysischen Tradition für eine mit seinen eigenen Intentionen eng verwandte Unternehmung, insofern er in ihr dieselben postontologischen Energien wirksam sah, die sein systemisches Theorieprojekt vorantrieben. Er räumte ein, daß Dekonstruktion eine aktuelle Option ist und bleibt: Sie tut in der Tat genau das, »was wir jetzt tun können«. 2 Demnach ist Dekonstruktion eine streng datierte Form von theoretischem Verhalten – datiert in dem Sinn, daß sie erst nach dem Abschluß der historischen Formation herkömmlicher philosophischer Theorie auf den Plan treten konnte und auf eine »Situation« bezogen bleibt, zu deren Charakterisierung Luhmann fünf Merkmale anführt: postmetaphysisch, postontologisch, postkonventionell, postmodern, postkatastrophal. 3 Die Dekonstruktion setzt nach Luhmann die »Katastrophe der Modernität« voraus, die als Umschwung von der Stabilitätsform der traditionellen, hierarchisch-zentralistischen Gesellschaft zur Stabilitätsform der modernen, ausdifferenzierten, multifokalen Gesellschaft zu denken sei. Wird Multifokalität als Ausgangspunkt anerkannt, so steigt alle Theorie auf die Stufe einer Beobachtung zweiter Ordnung: Es wird nicht mehr eine direkte Beschreibung der Welt versucht, sondern vorhandene Weltbeschreibungen werden wiederbeschrieben – und dabei dekonstruiert. Man könnte sagen, Luhmann habe Derrida Ehre erwiesen, indem er ihm das Verdienst zusprach, eine Lösung für die logische Grundaufgabe der postmodernen Situation gefunden zu haben, welche lautet: von Stabilität durch Zentrierung und Fundierung auf Stabilität durch Flexibilisierung und Dezentrierung umstellen. Mit gutem Gespür für das latente Pathos der Dekonstruktion fügt Luhmann seiner zusammenfassenden Würdigung den Satz an: »So aufgefaßt wird die Dekonstruktion ihre eigene Dekonstruktion überleben als die relevanteste Beschreibung der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft.« 4
Worauf es hier ankommt, ist das scheinbar harmlose Verbum »überleben«. Mit ihm rührt Luhmann möglicherweise an den motivationalen Kern der Arbeiten des anderen Hegel. Tatsächlich könnte man die These aufstellen, Derrida habe seinen Ehrgeiz in die Entwicklung einer Theorieform gesetzt, die für alle Zeiten zukunfts- oder überlieferungsfähig werden sollte, indem sie die Anwendung auf sich selbst erlaubt und fordert, in der Gewißheit, aus dieser Prüfung stets regeneriert und konsolidiert hervorzugehen. Dieses Kunststück zu vollbringen wäre nur eine Theorie imstande, die gewissermaßen immer schon in ihrem eigenen Grab läge, um zu wiederholten Grablegungen aus ihm heraufzusteigen. Wäre es möglich, daß die Dekonstruktion ihrem Kernimpuls nach ein Konstruktionsprojekt darstellte, das auf die Herstellung einer undekonstruierbaren Überlebensmaschine zielte?
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2 Niklas Luhmann, Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: Niklas Luhmann, Aufsätze und Reden, herausgegeben von Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, S. 286.
3 Ibid.
4 Niklas Luhmann, Dekonstruktion, a.a.O., S. 291.
2 Sigmund Freud und Derrida
Man gerät durch solche Fragen, bei denen es sich in Wahrheit um Suggestionen handelt, in eine träumerische Stimmung. In deren innerer Drift stellen sich, wie unter assoziativem Zwang, die Motive der klassischen Metaphysik wieder ein. Bei einer rêverie dieser Art sehe ich unwillkürlich Erinnerungen an Sigmund Freuds Spätwerk heraufziehen. Ich denke namentlich an die Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion , die der Psychologe an der Schwelle des Todes verfaßt hatte und die seit ihrer Publikation in einer ersten Version 1937 sowie in der überarbeiteten Buchform 1939 ein permanenter Stein des Anstoßes geblieben ist – den Juden ein Ärgernis und den Europäern eine Torheit. Bekanntlich entwickelt Freud in dem ersten Teil der Abhandlung unter der Überschrift Moses, ein Ägypter , die »ungeheuerliche Vorstellung«, daß der »Mann Moses, der dem jüdischen Volke Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter war«, 5 in Wirklichkeit von ägyptischer Kultur und Nationalität gewesen sei. Im zweiten Abschnitt, der unter der schwebenden Überschrift steht: Wenn Moses ein Ägypter war ... , entwickelt Freud, vorsichtig
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