Mein fremder Bruder
einer hohen Mauer umgeben, hinter der mehrere kleinere, um einen Innenhof gruppierte Gebäude zu erkennen waren. Ein starker Geruch nach ungewaschenen Jungen und faulenden Bananenschalen lag wie ein Nebel über dem Grundstück. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte. Ein Junge, älter als Zaid, öffnete umgehend die Tür. »Wo ist der Huzur?« sagte sie. »Bring mich zu ihm.«
Der Junge zögerte. »Der große Huzur oder der kleine Huzur?«
Das wußte sie natürlich nicht. »Das ist mir egal. Warum nicht zum großen? Demjenigen, der hier das Sagen hat.«
Der Junge stellte sich aufrechter hin, als sei ihm gerade etwas eingefallen. »Frauen haben keinen Zutritt«, sagte er.
»Ist schon in Ordnung, er erwartet mich.« Sie streckte den Arm aus und klopfte dem Jungen auf die Gebetskappe, aber der erstarrte und trat zurück in den Schatten.
»Nein«, sagte er und wollte die Tür schließen.
Sie packte ihn an den Schultern. »Der Huzur wird mich empfangen«, sagte sie. »Laß mich rein.«
Er schubste sie weg und knallte die Tür zu. Sie hämmerte mit der Faust dagegen, weil sie genau wußte, daß er direkt dahinter stand. »Mach auf!«
Sie umrundete das Gelände von neuem und suchte nach einem anderen Eingang. Alles wirkte wie ausgestorben, keine Schritte, keinerlei Geräusche waren zu hören. Sie ging zurück zur Tür und klopfte wieder. Unter dem Niqab war es schwarz und kochend, ihr Atem heiß wie ein Feuerhauch.
Nichts. Sie wandte sich ab und rannte hinunter zum Fluß. Das Boot war nicht vertäut, und Khoka und der Bootsführer saßen mit den Riemen im Schoß da. »Sie lassen mich nicht rein«, sagte Maya.
»Wie viele?« fragte Khoka.
»Nur einer, ein Junge. Die Klassenräume müssen irgendwo hinten sein, aber ich konnte nichts sehen.«
»Ich komme mit«, sagte Khoka. »Ich versuche, einen Weg hinein zu finden.« Er watete ans Ufer.
Sie versuchten es wieder an der Tür, diesmal sprach Khoka. »Du mußt uns reinlassen«, sagte er, »es ist sehr wichtig.«
Der Junge zeigte auf Maya. »Frauen sind nicht zugelassen.«
Khoka schob den Jungen zur Seite und zwängte sich durch den Türspalt hinein. Maya wollte schon folgen, aber Khoka knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Sie hörte ein Handgemenge, Schritte, gedämpfte, feindselige Stimmen. Auf der Stelle , hörte sie. Auf der Stelle.
Die Tür ging auf. Khoka hielt den Jungen am Ellbogen. »Kommen Sie rein«, sagte er, »ich warte hier.«
»Was hast du ihm gesagt?« flüsterte Maya.
»Daß Sie die Schwester von Huzur Haque sind und hier wichtige Geschäfte zu erledigen haben, und wenn man Sie reinläßt, dann wird der Madrasa, so Gott will, ein großer Segen zuteil werden.«
»Ganz ehrlich?«
»Verzeihen Sie mir, Dhaktar, aber ganz ehrlich habe ich dem Jungen klargemacht, daß ich ihn verprügeln werde, bis ihm das Blut aus den Ohren läuft, wenn er nicht macht, was ich sage.«
Der andere Junge schniefte aufgebracht, drehte sich um und führte sie durch einen Gang in einen offenen Innenhof. Sie solle warten, bis er mit dem Huzur gesprochen hatte. »Sag ihm, daß ich Mrs. Haque bin«, trug sie ihm auf. Sie wartete und versuchte, in der Hitze nicht unruhig zu werden. Der Junge tauchte wieder auf und führte sie in eine kleine Kammer. Ein sehr dünner Mann mit einem ordentlich gestutzten Bart und einer Brille ganz oben auf dem Nasenrücken saß, einen Füller in der Hand, am Schreibtisch.
»Ich will mit dem Huzur sprechen«, sagte sie. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Choto Huzur.«
»Wo ist der große Huzur?«
»Auf Reisen.«
Maya versuchte den Mann einzuschätzen. Mit dem Niqab hatte Rokeyas Schwester recht gehabt: Sie konnte den Mann durch den Gitterstoff hindurch offen anstarren, ohne selbst gesehen zu werden. Sie sah die schlanken Finger, die noch nie körperliche Arbeit geleistet hatten, seine großen, dunklen Augen mit einer Spur von Kajal drum herum. Seine Djellaba war lang und ging ihm bis auf die Knöchel. Sie versuchte die Angst herunterzuschlucken, als sie an den Mann dachte, der sie mit dem Messer am Hals bedroht hatte.
»Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, Schwester?« Er lächelte und entblößte unregelmäßige Zähne.
Maya ging näher und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. »Ich will jemanden abholen. Einen Jungen.«
Der Huzur blickte zu Boden, und sie hatte auf einmal keine Angst mehr vor ihm. Er wußte genau, warum sie da war, wußte es aus der Art, wie sie vor ihm stand und ihm das Gesicht entgegenreckte,
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