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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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und seine Finger und der Füller zitterten wie die Zickzackkurve eines unregelmäßigen Herzschlags. Sie sagte: »Ich will mich nicht lang aufhalten. Ich bin hier, um Zaid Haque mit nach Hause zu nehmen. Sie übergeben mir den Jungen, und ich werde Ihnen keine weiteren Unannehmlichkeiten bereiten.«
    Sie machte sich auf eine Auseinandersetzung gefaßt, aber er saß wie versteinert am Schreibtisch und hielt den Füller in der Luft. Sie bemerkte, daß er sich die Fingernägel mit Henna rot gefärbt hatte. Sie wiederholte ihren Satz, diesmal lauter. Sie drohte ihm, daß sie dem großen Huzur alles sagen würde, der dann seine Vorgesetzten informieren würde. Er würde in Unehre fallen. Und dann würde sie die Polizei verständigen und die Madrasa schließen lassen. Er würde verhaftet werden. Haben Sie schon mal ein Gefängnis von innen gesehen, Huzur? Er stand jetzt auf und verstellte ihr den Weg zur Tür, und sie trat direkt auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Brust. »Ich weiß, was Sie getan haben«, sagte sie. »Ich weiß es, und Gott weiß es, und Sie werden dafür in der Hölle brennen.« Seine Stimme zitterte, als er auf den hinteren Teil der Anlage zeigte und etwas über einen Verschlag und eine verschlossene Tür murmelte. »Ich weiß, was Sie getan haben«, wiederholte Maya, während er den Schlüssel vom Hals nahm. »Ich weiß es, und Gott weiß es auch.«

    Sie folgt der Außenwand des Gebäudes, biegt um eine Ecke und steht auf einem durchs Gebüsch führenden Weg. Sie sieht das Schulhaus, ein rechteckiger Kasten mit einem Blechdach. Von drinnen kommt ein vielstimmiges Gesumm wie von einem Bienenschwarm.
    Genau wie der Oberlehrer gesagt hat, steht da ein kleiner Verschlag, nicht viel größer als ein Hühnerkäfig. Ein Dach gibt es nicht, aber die Wände sind hoch. Sie hämmert gegen die Tür, bevor sie den Schlüssel ins Schloß steckt. Sie hat Angst, daß sielosschreien wird, daß man sie hört, hat Angst vor dem, was sie hören wird. Die Tür antwortet. Es ist keine Stimme, nur ein sanftes klopf klopf klopf , nicht einmal von Fingerknöcheln, sondern von einer weichen Hand. Das Vorhängeschloß hängt in einem Riegel vor der Tür.
    Sie steckt den Schlüssel hinein.
    Die Tür geht auf, und da ist er, hockt über einem in den Boden gegrabenen Loch. Sie breitet die Arme aus, und er springt hinein, und sie glaubt, daß er ihren Namen ruft, Maya Maya Maya. Ihr Herz singt mit, aber dann werden die Worte deutlicher, und ihr fällt wieder ein, daß sie ja verkleidet ist und er sie für seine Mutter hält. Ma, Ma, Ma.
    Sie setzt ihn ins Boot. Er klammert sich an ihr fest. Das arabische Alphabet , sagt er, Alif-Ba-Ta-Sa . Ich kann es. Sie schaffen es bis nach Gaibandha. Auf dem Boot, wieder in Dunkelheit, fleht Maya Zaid an, etwas zu essen. Er will nicht, starrt nur durch das dünne Bambusgitter über dem Boot und sucht den Nachthimmel. Ich kann das arabische Alphabet, wiederholt er. Wo ist meine Ammu? Sie ist nicht hier, erklärt Maya ihm, das weißt du doch. Bismillah ir-rahman ir-rahim , fängt er an, die Worte zu rezitieren, die er jeden Tag aufs neue wiederholt hat. Audhu billahi min ash-shaitan ir-rajim . Eine kleine Eidechse ist als blinder Passagier mit an Bord gekommen und huscht zwischen den gebogenen Latten des Dachs herum. Zaid verfolgt sie mit dem Finger.
    Seine Großmutter wartet zu Hause auf ihn, sagt Maya zu ihm, sie wird sich so freuen, ihn zu sehen. Und sein Vater natürlich auch. Als sein Vater erwähnt wird, sagt er: Ich will nicht zurück nach Hause. Ich kann das arabische Alphabet Alifbatasa . Bismillahirrahmanirrahim . Auf seiner Wange ist eine offene Wunde. Ein blauer Fleck in seiner Ellenbogenbeuge.
    Maya wird von beißenden Schuldgefühlen überwältigt, wegen der Chappals, die sie ihm nie gekauft hat, weil sie zugelassen hat, daß er beim Stehlen erwischt wurde, weil sie ihn nicht so behandelt hat, als wäre er ihr Sohn, als gehörte er ihr. Sie erwartet, daß sie auch der Zorn auf seinen Vater packt, aber in diesem Augenblick fallen ihr nichts als Selbstvorwürfe ein.
    Khoka kann die Augen nicht von dem Jungen abwenden. Er starrt und starrt, verfolgt Zaids Hand, die nach der Eidechse greift, ihr den Schwanz abreißt und ins Wasser wirft.
    Als sie sich dem Ufer nähern, wird Zaids Rezitation immer lauter und lauter. Ich mag Orangen , sagt er. Bring mir eine Orange. Bring mir ein Fahrrad. Er fängt an, das islamische Glaubensbekenntnis zu rezitieren. Asch-hadu an la ilaha illa

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