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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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traten Maya die Worte auf die Lippen. Sie dachte daran, wie geduldig ihre Mutter ihr die Verse beigebracht hatte, damals als Kind, und wie widerwillig sie im Krankenhaus mitgebetet hatte. Eine Stunde verging. Der Junge verabschiedete sich. »Ich muß Getränke verkaufen«, sagte er.
    »Wie heißt du?« fragte Maya.
    »Khoka.«
    »Mach’s gut, Khoka.« Sie winkte und fügte hinzu: »Gott schütze dich.«
    Ächzend erwachte die Fähre wieder zum Leben, und die Sirene heulte los, als sie erneut anfuhren. Bald näherten sie sich dem anderen Ufer und trieben der Umarmung des Landes entgegen, die Sonne schwebte leicht über dem Horizont.

    Als sie von Bord ging, traf Maya wieder auf Khoka, der mit einem kleinen Bündel im Arm auf sie wartete. »Dakhtar, wo gehen Sie hin? Lassen Sie mich mitkommen. Ich kann Ihnen helfen.« Im hellen Nachmittagslicht konnte sie ihn jetzt deutlich sehen. Er hatte dunkle, leuchtende Augen. Eines Tages würde er mal ein schöner Mann werden, falls er genug zu essen bekam. Falls seine Schultern nicht verbrannt und vom Schleppen schwerer Lasten im Hafen gebeugt würden. Aber sie wollte sich mit niemandem belasten; er würde Fragen stellen, die sie nicht beantworten konnte. »Nein, es geht schon so.« Sie wollte ein paar kleine Scheine aus der Tasche ziehen.
    Plötzlich scheu geworden, schüttelte er den Kopf und lehnte das Geld ab.
    Sobald Maya den Fuß auf den Anleger setzte, wurde sie von Gepäckträgern, Teewallahs, Chotpotiverkäufern, Bootsführern und allen möglichen anderen Männern umringt, die etwas verkaufen oder vermieten wollten. Die Abenddämmerung senkte sich bereits auf das Ghat, aber sie würde nicht hier übernachten. Sie wollte sich augenblicklich nach Norden, Richtung Chandpur, in Bewegung setzen. Sie hielt ihre Tasche umklammert und suchte das Ufer nach einem leeren Ruderboot ab. Die Bootsführer sahen sie und riefen ihr zu.
    »Kommen Sie, Apa, ich bringe Sie hin, wohin Sie wollen!«
    »Flußaufwärts oder -abwärts, ich bringe Sie, Apa, kommen Sie, kommen Sie!«
    Neben einem Boot zögerte sie, weil sie sich auf einmal nicht mehr sicher war, was sie tun sollte. Sie war so oft allein gereist, doch als sie jetzt um sich blickte und sah, daß sie die einzige Frau am Flußufer war, wünschte sie sich, sie hätte Joy mitgenommen. Verweichlichung, Genossin Haque. Ärgerlich überihren plötzlichen Mangel an Selbstvertrauen winkte sie einen Bootsführer heran.
    »Ich will stromaufwärts fahren«, verkündete sie.
    »Ja, ja«, nickte der Bootsführer, »geben Sie mir Ihre Sachen.«
    »Sagen Sie mir zuerst, was es kostet.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen um den Preis, Schwester.« Er streckte wieder den Arm aus und berührte den Riemen ihrer Tasche.
    Sie wich zurück. »Schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich habe es mir anders überlegt.«
    Der Mann sprang leichtfüßig aus dem Boot und stand auf einmal neben ihr. »Machen Sie sich keine Sorgen, Schwester, mein Preis ist fair. Und außerdem« – er angelte nach etwas in seinem Mundwinkel, kaute darauf herum und spuckte es dann aus – »sollte eine Frau nicht allein reisen.«
    Sie wandte sich ab und bedankte sich. Die anderen Bootsführer beobachteten sie. »Die Dame weiß nicht, wo sie hinwill!« rief der Mann hinter ihr her. »Läßt einen armen Mann hungern, tst-tst . Geben Sie uns wenigstens was für unsere Umstände.«
    Die Idiotie dieser Forderung stachelte sie dazu an, sich noch einmal zurückzudrehen. »Was für Umstände? Sie müßten mir Geld geben, daß Sie mich so belästigen.«
    Sein Gesicht verdüsterte sich. »Meinen Sie, Sie können mit mir reden, wie Sie wollen?« Er packte sie am Arm. »Nur, weil Sie Geld haben und ich bloß ein Bootsführer bin?«
    Zorn stieg in ihr auf. »Und Sie meinen, Sie können so mit mir reden, nur weil ich eine Frau bin?« Sie riß sich los und ging zurück in Richtung der Fähre, während der Mann ihr weiter hinterherschrie. Fischer hörten auf, ihre Boote zu putzen, und starrten sie an. Sie war die Lokalsensation, wie sie da ganz allein am Flußufer auf und ab lief.
    Khoka schleppte eine Kiste Colaflaschen auf der Schulter. »Ich hab es mir anders überlegt«, rief sie ihm zu und hoffte, daß ihre Stimme nicht zu sehr zitterte. »Such mir bitte einen Bootsführer, aber einen ehrlichen, der mich stromaufwärts bringt.«
    »Aber es ist schon zu spät, Dakthar, jetzt nimmt sie niemand mehr mit. Es wird dunkel, sie sind alle dabei, das Ghat zu verlassen.«
    Ihr war mittlerweile unerträglich

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