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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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heiß geworden, obwohl der Abend anbrach, aber sie riß sich zusammen und fragte sich, ob das, was sie machte, richtig war. Sie war voller Panik, weil sie nicht wußte, wo Zaid war. Dieser Junge hier, dieser Kalte-Getränke-Junge, war so arm, daß er sein ganzes Leben zwischen zwei Ufern verbringen und einen Kronkorken nach dem anderen öffnen mußte und nie zur Schule gehen konnte. Aber er hatte den offenen Himmel über sich und konnte auf eigenen Füßen weggehen, wenn er wollte, aus eigenem, freien Willen.
    »Bitte, du mußt jemanden für mich finden. Ich habe Geld, ich kann bezahlen. Aber es muß heute abend sein.«
    »Na gut, ich kann’s ja probieren.« Er nahm ihr die Tasche ab und führte sie am Ufer entlang. Die Bootsleute packten bereits ihre Sachen zusammen, säuberten die Motoren und schöpften das Bilgenwasser aus. Khoka ließ sie an einem kleinen Stand zurück, wo sie eine Packung Nabisco-Kekse und eine Tasse Tee kaufte. Wenige Minuten später kam er wieder und brachte sie zu einem einfachen Ruderboot. Ein sehr alter Bootsführer begrüßte sie. »Chacha kümmert sich um Sie«, sagte Khoka. »Stimmt’s, Chacha?«
    Khoka hielt ihr die Hand hin, als sie ins Boot stieg. »Mit Ihrer Erlaubnis, Dakthar, möchte ich gern mitkommen.«
    »Meinst du, ich schaffe das nicht allein? Ich habe so was schon gemacht, weißt du. Ich war im Krieg.«
    »Sie waren im Krieg? Mein Onkel auch. Er hat eine Narbe, hier«, sagte er und fuhr mit dem Finger über seine Wange, »von einer Gewehrkugel.«
    Er lächelte sie wieder an, als gebe es keine Tragödie der Welt, die er noch nicht kannte oder überwunden hätte. »Na schön«, willigte Maya ein, »dann komm mit.«
    Sie fuhren los, als die Sonne auf den Horizont zusank, und bewegten sich gegen die Strömung, auf der leuchtende gelbeFlecken tanzten, wie glühende Zigaretten in einem dunklen Zimmer. Die Leute am Ufer wurden immer kleiner. Durch die Spalten im Bambusverdeck sah Maya das Wasser, das von außen gegen das Boot drückte. Die erste Stunde fuhren sie schweigend. Der Bootsmann summte beim Rudern vor sich hin. Schließlich sagte Khoka: »Vielleicht sollte ich Sie nicht fragen, Dakthar. Aber sind Sie in Schwierigkeiten?«
    Maya zögerte, weil sie nicht wußte, wieviel er davon verstehen würde. »Ich suche einen kleinen Jungen. Meinen Neffen.« Als sie erst einmal angefangen hatte, kam die ganze Geschichte aus ihr herausgeströmt. Wie sie nach ihrer langen Abwesenheit nach Dhaka in den Bungalow heimgekehrt war, die Krankheit ihrer Mutter, Zaids Aussehen.
    Khoka lauschte der Geschichte gebannt. Ihm war anzusehen, daß er an sich selbst dachte, an sein Leben, und seine Schwierigkeiten mit denen des anderen Jungen verglich. Er wog es gegeneinander auf: Der Tod seiner Eltern, die langen Arbeitstage, an denen er Getränkekisten das Ghat hinauf- und hinuntertrug. All die anderen Verletzungen. Am Ende, als sie von Rokeyas Enthüllung und dem Zusammentreffen mit Sohail erzählte, hatte Maya fast vergessen, wo sie war. Als sie aufblickte, sah sie, daß Khokas Augen glänzten. Er lehnte sich seitlich über die Reling, schöpfte eine Handvoll Wasser und spritzte sie sich ins Gesicht.
    Es gehörte sich für ihn nicht, sie zu umarmen. Aber als Khoka sich das Gesicht mit den schwieligen Handballen abwischte, war es, als würde er sie im Arm halten. Als hätte er gesagt: Ja, es ist richtig, daß du hier bist, hier in diesem Boot, und stromaufwärts reist, um den Jungen zu suchen. Wenn du ihn findest, wirst du auch mich finden.
    Und so verbrachten sie ihre Reise den Fluß Jamuna hinauf, der die Ufer aushöhlte, nach seinem Flußbett verlangte, mit jeder Welle die Küste aufbrach, ein Stück davon schluckte und sie im von ihm vorgegebenen Tempo und Befehl dem Ziel näher brachte.

    Sie erzählte Khoka alles, was sie über die Madrasa wußte.
    »Sie wissen nicht, wie sie heißt?«
    »Nein. Ich kenne mich in dieser Gegend nicht aus.«
    »Und das Dorf wissen Sie auch nicht?«
    »Nein, so leid es mir tut.«
    »Dann fahren wir zu jeder Madrasa in jedem Dorf in der Nähe von Chandpur, bis wir ihn gefunden haben.«
    Zaid hatte gesagt, daß die Schule von Wasser umgeben war. Bisher war ihr nicht klar gewesen, was das bedeutete, aber jetzt verstand sie genau, was er damit gemeint hatte. Der Fluß war so breit und so reißend, daß er ständig neue Inseln schuf. Sie hatte schon davon gehört, aber noch nie so etwas gesehen. Khoka erklärte ihr, daß sie Chars genannten wurden, und zeigte darauf:

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