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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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flache, gelegentlich überschwemmte Pfannkuchen festen Landes, die nur wenige Zentimeter über das Wasser hinausragten und mit ein paar bleichen Grashalmen bewachsen waren.
    »Jedes Jahr nach dem Monsun bilden sich diese Inseln. Manchmal bleiben sie bestehen, manchmal werden sie innerhalb von ein paar Monaten wieder vom Fluß gefressen. Die da drüben« – er zeigte auf etwas, das wie das Ufer aussah –, »die ist alt, die gibt’s schon seit Jahren. Ihre Madrasa muß auf einer von den älteren Inseln gebaut sein.« Er sagte etwas zum Bootsführer. »Wir können ja mal hier anlanden und fragen.«
    »Zu spät«, sagte der Bootsführer. »Wir machen jetzt Feierabend und versuchen es morgen.«
    Maya sah auf die Uhr. Neunzehn Uhr, trotzdem war es bereits stockdunkel, als sie anlegten, der Strom grau und schwarz und plötzlich ganz still.

    Der Bootsführer kochte Reis auf einem improvisierten Kocher neben dem Motor, und Khoka briet ein paar Garnelen, die er vom Boot aus gefangen hatte. Sie aßen schweigend, und Maya war erstaunt, wie köstlich die knusprig gebratenen, salzigen Garnelen schmeckten. Nach dem Mahl sagte Khoka: »Der Bootsmann will Ihnen eine Frage stellen, Dakhtar.« Im Gesichtdes Alten hatten sich tiefe Falten eingegraben, die es liebenswert erscheinen ließen. »Meine Frau«, sagte der Alte. »Sie hat etwas am Hals.« Er machte Handbewegungen an seinem faltigen Hals. »Er ist ganz rund, so.«
    »Sie meinen, ihr Hals ist geschwollen?«
    »Es sieht aus, als ob sie einen Kürbis verschluckt hätte.« Seine Lippen waren vom Betelkauen innen tieforange verfärbt und außen schwarz verfärbt.
    »Das ist ein Kropf«, erklärte Maya. »Sie braucht Jod. Wenn Sie in den Laden gehen und Salz kaufen, dann sagen Sie, daß Sie Salz mit Jod darin haben wollen.«
    »Kostet das mehr?«
    »Nicht mehr als das andere Salz.« Es war mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben, daß nur noch jodhaltiges Salz verkauft werden durfte, aber nicht alle Händler hielten sich daran. In Rajshahi hatte sie die Salzverkäufer vom Jodsalz überzeugt. In ihrem Dorf hatte es keine geschwollenen Hälse mehr gegeben.
    Der Bootsführer hob zum Dank die rechte Hand an die Stirn. Dann bedeutete er ihr, daß sie sich im Boot ausstrecken sollte, Khoka und er würden sich ein trockenes Fleckchen am Ufer suchen. Maya deckte sich mit dem Tschador zu, verschränkte die Arme vor der Brust und schlief schnell ein.
    Am Morgen fragte Khoka eine Gruppe von Männern, die auf dem Weg zur Feldarbeit waren. Ja, erfuhren sie, es gab eine Madrasa hier. Sie gingen im Gänsemarsch zwischen ein paar kleinen Reisfeldern hindurch und kamen zu einem blauen, vollständig aus Wellblech errichteten Schulgebäude. Auf einem ungepflegten Rasenstück vor dem Gebäude stand eine Handvoll Schulkinder herum. »Das kann es nicht sein«, sagte Maya und wandte sich ab.
    »Sie wollen den Lehrer nicht suchen gehen?«
    »Guck doch«, sagte sie und zeigte auf die Kinder. »Mädchen.«
    Der Bootsführer mußte auf der weiteren Fahrt flußaufwärts mächtig gegen die Strömung anarbeiten. Sie hielten noch mehrere Male an provisorischen Schulgebäuden und Nebengebäuden von Moscheen an. Auf den Inseln herrschte eine Atmosphäre der Leichtigkeit, ihre Bewohner, deren Saris und Lungis sich im Flußwind wie Ballons blähten, wirkten unbeschwert und sorglos. Vielleicht, dachte Maya, als die Sonne von neuem hinter dem wäßrigen Horizont verschwand, komme ich irgendwann einmal leichteren Herzens hierher zurück.

    Am nächsten Morgen landeten sie an einer großen Insel an, die sich mehrere Meter über den Wasserspiegel erhob. Maya und Khoka folgten einem Pfad, der am Ufer begann und auf dem sie zunächst mit den Zehen im Schlick versanken. Schon nach wenigen Schritten aufwärts wurde der Untergrund jedoch trocken, und es ließ sich einfacher laufen. Khoka schlenkerte beim Gehen mit ihrer Tasche, und der Koel und die Nachtigall sangen im Chor und feuerten sie an.
    Nach zwei weiteren falschen Anläufen standen sie vor einer schmalen blauen Tür, die in eine hohe, fensterlose Mauer eingelassen war. Maya spürte ein hohles Pochen in der Magengrube. »Das muß es sein.« Sie zog den Tschador aus der Tasche und zog ihn über. Dann band sie sich den Niqab vors Gesicht und war erstaunt vom Gefühl ihres eigenen Atems an den Wangen. »Wart am Boot auf mich«, sagte sie zu Khoka. »Es kann sein, daß wir schnell wegmüssen.«
    Wie ein Dieb schlich sie um das Gebäude herum. Die gesamte Anlage war von

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