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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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zur Verhandlung kommt. Brauchst du irgend etwas?«
    »Nein.«
    »Ich rede mit ihnen über deine Ernährung. Du mußt essen.« Er strengt sich sehr an, nicht wieder in Tränen auszubrechen.
    Das Lampenlicht folgt ihm noch ein paar Schritte, und dann ist er weg.

    Beim nächsten Mal bringt er ihre Mutter mit. Maya darf in einen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen gehen. Ammu trägt einen dunkelblauen Sari, und ihr Gesicht taucht bleich und rund aus dem Halbdunkel auf. Sie hat eine Brille auf. Bedächtig setzt sie sich hin. Joys Hand schwebt über Mayas Kopf. »Ich warte draußen.«
    »Ich bin hergekommen, weil ich dir etwas zu sagen habe«, beginnt Ammu.
    Maya kann ihr nicht in die Augen sehen. Sie faßt nach oben und zieht sich den Niqab übers Gesicht. Ich kann es nicht ertragen, daß du mich ansiehst.
    »Ich weiß, daß du immer Silvi die Schuld daran gegeben hast, wie dein Bruder sich verändert hat.«
    Silvi. Silvi hatte von der anderen Straßenseite her die Hände nach Sohail ausgestreckt und ihm den Hals zugedrückt.
    »Weißt du über Hadschi Mudassar Bescheid?«
    Maya sucht nach ihrer Stimme. Sie nickt.
    »Er ist der Imam, der in Kakrail verehrt wird. Aber damals, 1972, war er in unserer Moschee an der Road 13.«
    Die Moschee am See. Das Freiluftgelände, auf dem die Männer aus der Gegend am Freitag zusammenkamen.
    »Sohail fing schon bald nach dem Krieg an, dahin zu gehen.«
    Mayas Stimme kam kraftlos unter dem Niqab hervor. »Was willst du mir damit sagen?«
    »Hadschi Mudassar war wie ein Vater für Sohail.«
    »Er hat mir nie etwas von ihm erzählt.«
    Ammu stützt sich mit den Ellbogen auf. »Ich habe mich immer gefragt, weißt du, wer von euch beiden seinen Vater stärker vermißt hat.«
    Ich war es, ich war es.
    »Anfangs dachte ich, du wärst es. Ein Mädchen braucht einen Vater, das weiß ich besser als alle anderen. Und ich habe immer gedacht, wenn dein Vater noch leben würde, hätte er nie erlaubt, daß du in den Krieg gehst. Oder nach Rajshahi. Wir wären alle zusammengewesen, wir vier. Aber als er starb, war Sohail ja erst acht. Er war erst acht und war trotzdem schon der Mann im Haus. Ich habe ihn geschickt, um die Lebensmittelmarken abzuholen und die Stromrechnung auf dem Amt bezahlen zu gehen. Du wirst dich nicht mehr daran erinnern. Ich mußte das machen, verstehst du, ich hatte ja sonst niemanden. Und nachdem, was im Krieg passiert ist, hat Sohail dann Hadschi Mudassar gefunden.«
    »Nach dem, was passiert ist?«
    »Er war auf dem Nachhauseweg«, erzählt Rehana, »und da war ein Mann auf der Straße – im Grunde war es eigentlich ein Unfall, sozusagen.«
    Warum erfährt sie als letzte davon?
    »Zu mir hat er gesagt, du würdest es wissen«, antwortet Ammu. »In der Nacht, in der er seine Bücher verbrannt hat, hat er es dir erzählt.«
    Nein, nichts hat er mir erzählt. Er hat mir nie irgendwas erzählt. Ich habe getötet, Maya. Ich habe getötet.
    »Ist ja auch egal. Weswegen ich dir das erzähle – so ein Erlebnis kann einen Menschen vernichten, Maya. Es kann einem Jahre oder das ganze Leben rauben.«
    Aber es ist nicht dasselbe. Zaid ist noch ein Kind.
    »Und noch etwas, zu Silvi. Du darfst ihr nicht an allem die Schuld geben. Gegen Ende war sie anders – ich glaube, sie hatte Verständnis für Zaid.«
    Silvi vergeben? Mit ihr hatte alles angefangen. Es kann nur Einen geben , hatte sie gesagt. Und die Welt war enger geworden. Ihre eigene Schuld hat Maya nicht nachsichtiger gemacht.
    »Ist er gefunden worden?« flüstert sie.
    Ammu drückt Mayas Hand. »Nein, sie haben ihn noch nicht gefunden.« Sie drückt fester. »Du hast Zaid nie geglaubt, als er dir erzählt hat, seine Mutter hätte Ludo mit ihm gespielt und ihm versprochen, daß er bald zur Schule gehen dürfe. Aber das stimmte.«
    Sie will nicht, daß ihre Mutter geht. Sie klammert sich an ihr fest und muß von ihr losgerissen werden.

    Ammu erzählte ihr alles. Jetzt wußte sie Bescheid. Sohail rettete Piya aus der Kaserne. Machte die Ketten los und brachte sie in ihr Dorf zurück. Erst dann dachte er selbst ans Heimgehen. Er ging zu Fuß nach Süden, auf der Jessore Road, die auf beidenSeiten dicht von Flüchtlingen gesäumt war. Der Frieden war erst ein paar Tage alt, und schon strömten sie ins Land zurück. Den ganzen Tag lief er, rastete am Straßenrand, genau wie alle anderen, die Arme unter seinem rotblau karierten Hemd gefaltet – ein Schatz, weil es seinem Freund Aref gehört hatte. Eines Abends nach Einbruch der

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