Mein Glueck
Jahrhunderts den Salonbetrieb und den akademischen Kanon zu zerbrechen vermochte. Ja, Avantgarde lässt sich als akute Chronologie charakterisieren. Das Ziel der Neupräsentation war, die Irritationen und Brüche, die die Kunst in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auszeichnet, spürbar werden zu lassen. Vorgeführt wird eine Abfolge von künstlerischen Taten, die sich im Moment ihres Entstehens auf keine Absicherungen und auf keine geschichtlichen Ableitungen mehr beziehen wollten. Die geradezu systematische Suche nach dem Bruch mit der Tradition umkreist das, was uns in ständigen Variationen immer wieder begegnet: in Manets Griff nach der Mode und damit nach der mit der Mode zusammenfallenden vestimentären Jetztzeit ebenso wie in Gauguins Abkehr vom eurozentrischen Motiv, in Rousseaus Blick auf die Holzstiche seiner Zeit oder in Braques-Picassos »papier collé«, das in dem Augenblick als Fluchtpunkt des Neuen erscheinen kann, da das vierhändige Malen beider Künstler ein für den modernen Subjektivismus erstaunliches Maß an intersubjektiver Verbindlichkeit erreicht hatte. Schon diese Beispiele rufen in Erinnerung: Jede avantgardistische Neuerung zielt auf eine möglichst totale Entfremdung von einem aktuellen kulturellen Code, jede beruft sich auf eine eigene Epiphanie. Das Bild von der »Inselhaftigkeit« des Kunstwerks, von der Benedetto Croce spricht, um das Genie der evolutionistischen Eingebundenheit zu entreißen, umschreibt diesen Anspruch auf Autonomie. Sein Wort veranschaulicht den Charakter der Distanz, die Kunst zu sich selbst sucht. Kunst braucht als Energie und Begründung dezisionistische Entscheidungen, die unentwegt den ungeschichtlichen Moment des Neuen zu inszenieren suchen.
In diesem Sinne bleibt die Epoche, die in dieser Museumspräsentation im Mittelpunkt steht, von allen vorhergehenden radikal geschieden. Der Gang der Moderne, das, was uns die Moderne an Objekten anbietet, fällt mit der Suche nach Wirkungen zusammen, die der Begründung durch geschichtliche Traditionen entgehen wollen. Was sich aus diesem Verlauf erkennen lässt, ist keine Lehrstunde für intersubjektive Gewissheiten, die tradiert werden. Was wir sehen, erscheint als ein Kaleidoskop pointierter, oft rabiater Versuche, sich von Tradition freizumachen. In dieser radikalen Diskontinuität realisiert sich das Prinzip der Modernität. Allein das Festhalten an der Chronologie vermag die Geschichte der unerhörten, inventiven Wildheit und Leidenschaftlichkeit der Avantgarde zu bewahren und zu visualisieren. Die diachrone Struktur bewahrt die Energie der Avantgarde. Synchrone Präsentationsformen dagegen schleifen das dialektische Prinzip, das die historische Entwicklung bestimmte, ab. Für Museen und Sammlungen, die sich weitgehend auf die Kunst der letzten Jahrzehnte konzentrieren, für Sammlungen zeitgenössischer Kunst, die – wie die Neue Tate Gallery – allenfalls einige historische Belegstücke in ihre breite Präsentation integrieren können, mag die Fragestellung eine andere sein und die Lösung entsprechend anders ausfallen. Eine Präsentation, die mit thematischer Gliederung arbeitet und dabei die Chronologie abschafft, kann nur vorübergehend von den schwerwiegenden Schwächen ablenken, die die Sammlung aufweist. Das stand auch im Mittelpunkt einer Veranstaltung im Auditorium des Louvre, auf der Kirk Varnedoes und meine Ansichten mit der von Lars Nittve aufeinanderprallten. Der hatte die Tate in London eingerichtet. Nittve musste das anthologische Prinzip der Präsentation vertreten, das unabhängig von Chronologie Themen aufeinanderstoßen lässt und dabei für Varietät und Paradox sorgt. Varnedoe, im Namen des MoMa, und ich meinten, diese Entscheidung finde allein in den Schwächen der Sammlung der Tate ihre Erklärung und Legitimation. Was mich störte, war die Verwechslung zwischen der Präsentation einer Sammlung und einer Ausstellung. Im Centre Pompidou korrespondieren Sammlung und Ausstellungen so, dass sie sich ergänzen. Eine Präsentation dagegen, die die Sammlung vorzugsweise thematisch präsentiert und dabei den historischen Ablauf unterschlägt, bringt diesen Unterschied zwischen Museum und Ausstellung zum Verschwinden. Es gibt genügend Ausstellungsthemen, die vorübergehend von einer nichtchronologischen Präsentation profitieren können. Doch ich finde, anschließend sollten diese wieder, von historischer Schwerkraft ergriffen, an den Platz zurückfallen, den sie in der Chronologie,
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