Mein Glueck
heute als Baum der Erkenntnis dient. Der unerschöpfliche Bestand des Musée National d’Art Moderne verpflichtet, nicht dem Streben agiler Kulturpolitiker nachzugeben und allein das Neue in den Vordergrund zu rücken, sondern die Präsentation der Sammlung und ihren Diskurs zu überdenken. Über das Urteil eines großen Vorbilds freute ich mich besonders. Werner Hofmann schrieb nach der Wiedereröffnung: »Die neue Gestaltung des Musée d’Art Moderne gibt der Stadt ihre intellektuelle Tradition wieder zurück und erneuert deren Auftrag. Sie huldigt keineswegs der hochmütigen Metropole, die einmal glaubte, in der modernen Malerei zähle nur das Etikett ›École de Paris‹, sondern setzt die geistige Kapitale in ihr Recht, die es immer verstanden hat, Sensibilität mit Analyse, Aufklärung mit Intuition zu paaren.«
Ich bin davon überzeugt: für die Präsentation solch einzigartiger Sammlungen wie der des Musée National d’Art Moderne oder des Museum of Modern Art in New York kann sich nichts anderes als die chronologische Ordnung anbieten. Jeder andere Umgang mit den Werken kompliziert das Verstehen, produziert Entropie. In unseren Augen dominiert die Erinnerung an den Beginn des Konzepts der modernen Kunst, an das, was im Rückblick der Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Begründung liefert: die folgenreiche und brillante Schlagkraft der kontradiktorischen subjektiven Setzungen, die dem früheren, noch in ein gesellschaftliches Ganzes eingebetteten Verlauf von Kunst ständig aufs neue scharfe Trennlinien und Ausgrenzungen entgegensetzt. Dies schließt nicht aus, dass man innerhalb der Chronologie stärker als zuvor ikonographische Gesichtspunkte betont und immer wieder mit inhaltlichen Kontrasten und Assoziationen arbeitet. Deshalb glaubte ich, bot das Entree mit Rousseaus »Krieg« und Picassos »Seilhüpfendem Mädchen« eine doppelte Lektüre an. Einmal geht es bei diesem Dialog zwischen dem Bild und der Skulptur um den Hinweis, dass Kunst im zwanzigsten Jahrhundert in Bezug zur Zeit und zur Geschichte zu treten hat. Rousseaus Bild, noch im neunzehnten Jahrhundert gemalt, fasst antizipatorisch den Horror des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen. Es ersetzt an dieser Stelle im Musée National d’Art Moderne ein abwesendes Bild, Picassos »Guernica«. Mit dem Kind in Picassos »Seilhüpfendem Mädchen« antwortet eine »Miss Jekyll« der unheimlichen »Miss Hyde« bei Rousseau, und die Skulptur unterstreicht, wie wichtig für die Herausbildung der Avantgarde der Neuanfang und der Bruch mit der Überlieferung, mit Salonkunst und Akademiegewohnheit wurden. Dafür spricht das Thema Kind, und dafür spricht die taktische Naivität des Zöllners Rousseau. Intuitives Verhalten wird als Strategie eingesetzt, um Tradition und Lehrbetrieb aufzubrechen. Niemand möchte von einem anderen abhängig sein.
Alles, was nach Norm, Schule, Vorbildern aussieht, ist verpönt. Auch Gauguin spielt das Unzivilisierte gegen das Raffinement des Symbolismus und gegen die sensualistische Augenkunst der Impressionisten aus. Das Atavistische, Junge, das Gauguin sucht, passt zu seiner Misanthropie und Europamüdigkeit. Er braucht den Schock durch das Nie-Gesehene und Nie-Erlebte. Er erwartet ihn von einer möglichst weitgehenden Akkulturation. Das Dilettantische, das gewollt Unfachgerechte, das am Beginn vieler Werke steht – denken wir nur an die frühen, bewusst linkischen, über die Salonkunst spottenden Bilder Cézannes –, liefern die Voraussetzung für eine Kunst, die von nun an den konventionellen Geschmack der Zeit bis aufs Blut zu reizen versteht. Die Aufforderung nach dem »désapprendre«, nach dem »Verlernen«, der Ruf nach Spontaneität, den man im Umkreis aller Pioniere der Moderne feststellt, findet in diesen Regressionen einen anschaulichen Ausdruck. Es gilt, sich von der Übermacht der Museen, der Salonkunst, dem Reglement der Akademie freizumachen. Dieser ikonographische Weg bietet sich an, da die lang behauptete Teleologie der Avantgarde – die Eroberung einer irreversiblen abstrakten, gegenstandslosen Bildsprache – heute selbst eine historisch gewordene Behauptung geworden ist.
Ich plädiere für die chronologische Abfolge, weil diese allein das Gesetz, das die Moderne regiert, erkennbar hervortreten lässt. Doch noch etwas anderes, noch Entscheidenderes spricht für die chronologische Anordnung. Diese allein vermag die Virulenz in Erinnerung zu rufen, mit der die Avantgarde des zwanzigsten
Weitere Kostenlose Bücher