Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Glueck

Mein Glueck

Titel: Mein Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Spies
Vom Netzwerk:
finde ich entscheidend. Sie dokumentieren vergangenes Engagement und Aufnahmefähigkeit, Hass und Krieg. Und sie erklären, warum es in der nationalen Sammlung Frankreichs so gut wie keinen deutschen Künstler der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gibt. Warum sollten die Franzosen nach Verdun und nach der gezielten Bombardierung der Kathedrale von Reims deutsche Kunst kaufen? Auch das Fehlen des italienischen Futurismus und die Zurückhaltung gegenüber der New Yorker Schule werden so sichtbar, und allein dies ist Anlass, nach den Gründen zu suchen. Im Eingangsbereich des Museums installierte ich ein gigantisches Werk von Jean Tinguely, das mobile Relief »Requiem pour une feuille morte«. Ann Hindry hatte sich dafür eingesetzt, dass es als Leihgabe der Sammlung Renault aus dem Tinguely-Museum in Basel nach Paris gebracht und unserem Museum zur Verfügung gestellt wurde. Dieses Werk bringt zum Ausdruck, was am Ende des Jahrhunderts evident geworden war: Fortschrittsoptimismus und evolutionäres Denken wurden durch eine lethargisch-melancholische Stimmung abgelöst, die eher an das zuschnappende Räderwerk in Chaplins »Modern Times« oder an Kafkas Tötungsmaschine in der Strafkolonie als an den Maschinentaumel der Futuristen erinnert. Der für den Ausstellungsrundgang vorgesehene Weg, der mit einem Blick auf die neuere und neueste Kunst beginnt, erwies sich als gute inszenatorische Alternative gegenüber der alten Präsentation. Die Besucher konnten sich im Museum zunächst in der Jetztzeit umschauen. Sie wurden im vierten Stock mit dem konfrontiert, was aktuell in den Ateliers, in den Architekturbüros, in den Studios der Designer entsteht. Man begegnet keiner kanonisierten Kunstgeschichte, man soll sich nicht mit dem zufriedengeben, was einem bekannt ist. Man wird aufgefordert, am Prozess der Gegenwart teilzunehmen. Früher konnte der Besucher das Museum betreten, seine Fauves, seinen Matisse bestaunen und sich nach dem Wiedersehen mit diesen Gewissheiten verabschieden. Das war nun anders, präsenter und provokanter war die zeitgenössische Kunst im Musée National d’Art Moderne noch nie aufgetreten. Aber hier lag auch der Auslöser für ständige Konflikte. Denn nirgends fühlen sich Herr und Frau Jedermann peremptorischer zu einem eigenen Urteil berechtigt als im Umkreis der zeitgenössischen Kunst. Vom vierten Stock gelangte man über zwei einfache Holztreppen in den fünften Stock, in dem der Gang durch die Kunstgeschichte mit den Fauves und den Kubisten begann. Wir plädierten neben zwei Aufzügen für diese Treppe und verwarfen den Vorschlag, Rolltreppen einzubauen.
    Mit der Einrichtung der beiden Stockwerke des Museums sollte der Besucher nicht allein den zwei verschiedenen Zeiten begegnen, sondern ihm sollte auf unmittelbare Weise ein Bewusstsein von Moderne und gleichzeitig der Wahrnehmung historischer Distanz vermittelt werden: Zwei Zeiten, zwei Modi, mit Zeit und Geschichte umzugehen, und beide sollten unmerklich voneinander profitieren. Beide halten sich wechselseitig in Schwebe. Dies gehört zur Dialektik, die Nietzsche in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben als eine »unzeitgemäße« Betrachtung definierte. In der Praxis des neu installierten Museums treffen immer wieder Phasen der Revitalisierung von Geschichte auf solche, die von der Fähigkeit des »Vergessenkönnens« profitieren. In diesem Wechsel entdeckt Nietzsche die Hygiene der neuen Zeit, denn das »Unhistorische und das Historische ist gleichermaßen für die Gesundheit eines einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig«. In einer mobilen, keineswegs rechthaberischen Präsentation der jüngsten Vergangenheit sehe ich die eine Aufgabe des Museums. Die andere besteht darin, ausgehend von den reichen Sammlungsbeständen, Arbeiten der ersten zwei Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts vorzuführen. Kann das Museum im Bereich der zeitgenössischen Kunst guten Gewissens nicht mehr als Statements abgeben, so geht es dort, wo mit einem größeren zeitlichen Abstand gearbeitet wird, um die Konstruktion der Kunstgeschichte. Hätten bedeutende Museumsleute wie Alfred Barr nicht, in der Absicht, die Erkenntniskategorien eines Wölfflin auf Picasso, auf Matisse, auf Dada, Surrealismus oder auf die Abstraktion anzuwenden, ihre großartige Sammlungs- und Erkenntnisleistung erbracht, hätten wir heute kaum das, was ein Museum moderner Kunst genannt werden kann. Sie arbeiteten mit einem Stammbaum, der uns bis

Weitere Kostenlose Bücher