Mein grosser Bruder
alle Glieder schmerzten. Zu müde zum Schlafen.
Ich dachte an Johannes und war von Mitleid erfüllt. Lieber Gott, so jung zu sein und dabei ohne alle Freude!
War es die jahrelange Fürsorge für mich und Mamilein, die alle Lebensfreude und allen Lebensüberschuß in ihm erstickt hatte?
Dann glitten die Gedanken zum Theater, zu der Party vom vergangenen Abend und zu dem, was Ida gesagt hatte.
Und dann dachte ich an Torsten.
In – in – ich sah auf die Uhr – in elf Stunden würde ich wieder seine Arme um mich fühlen, wenn wir auf der Bühne hinter der Glastür zusammen tanzten.
Schließlich sank die Müdigkeit, die gute, große Müdigkeit über mich und löschte alle Gedanken aus.
Ich hörte nur noch Torstens Stimme: „Ich meine etwas damit, Vivi, ich meine so schrecklich viel damit.“
Und diese Worte lullten mich in einen tiefen Schlaf.
Abschied vom Theater
Es war mir längst zur Gewohnheit geworden, mich zu schminken, das trägerlose Kleid anzuziehen, das im Stoff brüchig und an den Kanten zerschlissen war. Es war mir zur Gewohnheit geworden, den Minislip anzuziehen, der jetzt angegraut war, und von der Schminke bräunliche Kanten hatte. Und ich mußte mich ordentlich zusammenreißen, um einen lebhaft interessierten Ausdruck zu mimen, während ich die Repliken über mich ergehen ließ, die ich nun von vor- und rückwärts kannte, und den gräßlichen dünnen Saft trinken mußte.
Vieles wird zur Gewohnheit und verliert seinen Glanz.
Aber niemals wurde ich müde, mit Torsten zu tanzen.
Doch nun nahte Weihnachten, und am zweiten Feiertag sollte ein neues Stück Premiere haben, in dem keine Statisten gebraucht wurden. „Zwei in einem Kutter“ sollte nun als Nachmittagsvorstellung an jedem Feiertag, vom zweiten Weihnachtsfeiertag angefangen, auf dem Spielplan erscheinen.
Am Abend vor Weihnachten war die Vorstellung eine Plage. Das Haus knapp halb voll, eine Menge Freikarten, matte Stimmung. Wir waren alle erleichtert, als der Vorhang fiel und wir einander frohe Weihnachten wünschten.
An diesem Abend brachte Torsten mich heim, und als wir zum siebenten Male gute Nacht gesagt hatten, steckte er mir ein kleines Päckchen in die Hand. Auch ich hatte etwas für ihn: ein Paar selbstgestrickte Norweger-Handschuhe. Daß ein Pulli in Arbeit war und zu seinem Geburtstag im Februar fertig sein sollte, verriet ich ihm nicht.
Johannes und ich hatten eine Einladung bekommen, den Weihnachtsabend bei Alfred und Mamilein zu verbringen. Aber wir hatten dankend abgelehnt und wollten lieber für uns sein. So feierten wir einen sehr stillen und ruhigen Abend, mit gedämpfter Radiomusik und Johannes’ schönsten Platten. Er ist Bach-Verehrer. Ich bekam von ihm Pelzhandschuhe, und er war sehr gerührt über den Pullover. Der Abend verlief stiller als jeder andere Weihnachtsabend zuvor.
Am ersten Weihnachtsfeiertag mußten wir zu Alfred und Mamilein gehen. Es gab ein riesiges Festmahl, mit Austern, Pute, Pfirsichcreme und am Abend einen kalten Weihnachtstisch, wie ich ihn nie gesehen hatte.
Diesmal waren wir nicht die einzigen Gäste. Alfreds Tochter aus seiner früheren Ehe, sein Schwiegersohn und der vierjährige Enkel waren auf Weihnachtsbesuch gekommen und zum Festessen beim Vater. Sie wohnten bei der Mutter, „sie verteilten sich“, wie Mrs. Home, oder Edna, wie sie hieß, lächelnd erzählte.
Es war also der reine Familienweihnachtsbesuch, zu dem wir gebeten waren, selbst wenn die Familie, gelinde gesagt, etwas zusammengewürfelt war. Johannes hatte drei Väter und zwei Mütter, Edna hatte nur einen Vater und zwei Mütter, ich zwei Väter und zwei Mütter. Und nun waren wir bei dem Elternpaar, das wir gemeinsam hatten.
Ednas Mann konnte nicht Norwegisch, der kleine Junge auch nicht. Und da ich diejenige in der Versammlung war, die am besten Englisch sprach, mußte ich Robert Hörne und den kleinen Tim unterhalten, während die anderen verschnaufen und Norwegisch reden konnten, Ich kann nicht behaupten, daß die Gesellschaft besonders amüsant war. Robert Hörne zeigte mir Bilder von Schottland, wo sie wohnten, und erzählte ein paar Schottenwitze, über die ich höflich lachte. Er berichtete, daß sie bis über Neujahr in Norwegen bleiben und dann zurückfliegen und den Schwiegervater mitnehmen würden.
„Ja, stellt euch vor, mein schlimmer Mann verläßt mich“, sagte Mamilein. „Er behauptet, er muß auf eine Geschäftsreise.“
Alfred sah sie liebevoll an.
„Ja, leider. Aber du kannst
Weitere Kostenlose Bücher