Mein grosser Bruder
sicher sein, ich werde mich beeilen, zurückzukommen, Ullachen. Mit dem Koffer voller Geschenke für dich.“
Ach ja, an Geschenken war gewiß kein Mangel hier im Haus. Alfreds Weihnachtsgabe für Mamilein glitzerte in ihren Ohrläppchen in Form von zwei tiefroten Rubinen.
Aber Mamilein war sicher nicht glücklicher über ihre kostbaren Rubine als ich über ein dünnes, bescheidenes Silberkettchen mit einem hellblauen Aquamarin daran und über die Karte, die zusammen mit dem Aquamarin in der Schachtel gelegen hatte. Die lag in meiner Handtasche, und ich hatte die wenigen Worte darauf wohl fünfzigmal gelesen: „Für die kleine Hausfrau, das Teufelsmädel, meinen guten Kameraden Vivi von Torsten.“
Aber das mit dem Teufelsmädel sollte er trotzdem zurücknehmen, der Racker!
„Aber Vivi“, rief da Mamilein plötzlich, „sag, warst du das im Theater neulich oder war es deine Doppelgängerin?“
„Nein, ich war es. Aber ich mache jetzt Schluß, war bloß so ein Einfall von mir.“
„Na, ich muß schon sagen, du nimmst dich gut aus!“ sagte Mamilein. „Du hast hübsche Beine, Vivi, die hast du von mir.“
Eine unerklärliche Bitterkeit stieg in mir auf, und ich merkte selbst einen fremden Klang in meiner Stimme, als ich antwortete: „Ich habe wohl viel von dir, Mutter. Aber je älter ich werde, desto mehr merke ich, daß ich auch sehr viel von meinem Vater habe.“
Es entstand eine Pause, die zum Glück der kleine Tim mit seinem Geplauder unterbrach. Und dann wurde nicht mehr über meine Theatertätigkeit gesprochen.
Es war das erstemal, daß ich zu Mamilein Mutter gesagt hatte.
Bei der Nachmittagsvorstellung am nächsten Tag hatte ich aus Elsas Garderobe verschwinden müssen, denn Lilli Brandt, die Kollegin, mit der sie sie teilte, wirkte in dem neuen Stück mit. So mußte ich hinunter in die große Statistinnengarderobe, wo es keineswegs sehr behaglich war.
Mit Torsten konnte ich also nur sprechen, während wir tanzten und die Augen des Publikums auf uns hatten. Aber ich konnte ihm doch für den Aquamarin danken, und er gab mir in den Kulissen einen flüchtigen Kuß.
„Ich würde dich so gern heimbegleiten, Vivi“, sagte Torsten, „aber ich muß rasch nach Hause. Vater fühlt sich nicht wohl.“
„Ist es etwas Ernsthaftes, Torsten?“
„Ich weiß nicht. Der Doktor sollte heute nachmittag kommen. Bin gespannt, was er gesagt hat.“ Ich wanderte also allein nach Hause.
Ich war Torsten und Elsa sehr dankbar. Weil sie die Situation so glücklich gerettet hatten an jenem Abend, als Johannes unerwartet heimgekommen war. Elsa durch ihre Geistesgegenwart, Torsten durch seine Güte und sein Verständnis. Und die Kollegen hatten sich so herzlich für den wohlgelungenen Abend bedankt! Keiner ahnte den Skandal, den es gegeben haben würde, wenn Elsa nicht so blitzschnell Johannes abgefangen hätte. Denn ich kannte meinen Bruder und wußte: wenn er diesen Ausdruck in den Augen hatte, war er kurz vor einer Explosion.
Die hatte Elsa aber verhindert.
Lieb, klug und geistesgegenwärtig, wie sie war.
In den nächsten Wochen fühlte ich mich verlassen. Ich vermißte das Theater, und ich vermißte Torsten. Er rief einige Male an; einen Vormittag nahm er sich frei von seinem Studium und frühstückte bei mir; einmal waren wir im Kino. Ich fragte, ob er nicht an einem Abend kommen und Johannes kennenlernen wollte.
Aber Torsten schüttelte den Kopf.
„Erstens kann ich Vater am Abend nicht allein lassen“, erklärte er. „Es war ein Glück, daß diese Krankheit nicht kam, solange ich jeden Abend beschäftigt war. Und zweitens, Vivi, habe ich keine Lust, deinen Bruder jetzt schon zu treffen. Was bin ich? Ein armer Student mit einer Zukunft voll ungelöster Probleme. Ein Mann mit der Einstellung deines Bruders wird erwarten, daß wir uns verloben. Aber das kann ich nicht, Vivi, solange ich auf unsicheren Füßen stehe. Ich weiß nicht, wie lange Vater lebt, und ich weiß – na, ich weiß, kurz gesagt, überhaupt nichts. Ich habe dich lieb, das ist das einzige, was ich weiß.“
„Das ist das Wichtigste, Torsten“, sagte ich. Und zu mir selbst sagte ich, wenn nur das feststeht, dann soll mich nichts erschüttern.
Das Opfer meines Lebens
„Zwei in einem Kutter“ ging zum letzten Male über die Bretter.
Für diesen Abend wurden wir zu Elsa eingeladen. Die Tante hatte das ganze Haus zur Verfügung gestellt, und Elsa hatte alle eingeladen, die im Stück mitspielten.
Allerdings mußte das Fest
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