Mein grosser Bruder
Nun ja, dann nicht. Schade, Vivi. Nein, ihr da, ich kann ja nichts hören, könnt ihr nicht den Plattenspieler leiser stellen!“
Ich legte den Hörer auf.
Ich bebte am ganzen Körper und ich schluckte, schluckte krampfhaft, als ich mich so still wie möglich in mein Zimmer schlich. Ich fühlte, wie ich taumelte.
Gerade konnte ich noch die Tür meines Zimmers schließen, da stürzten die Tränen. Ich heulte, daß ein einziger, schmerzhafter Krampf meinen Körper schüttelte.
Es dauerte lange, lange, ehe ich zur Ruhe kam, und noch länger, ehe ich mich auskleiden und richtig zu Bett gehen konnte. Aber schließlich lag ich und fühlte die kühlen Laken wohltuend an meinem heißen Körper.
Alfred und Mamilein waren jetzt glücklich.
Wo aber war Torsten? Was dachte er von mir?
Dieser Abend hätte Torsten und mir gehören sollen.
Ich schloß die Augen, fühlte die Müdigkeit in meinem Kopf und Körper schmerzen.
Das Opfer war gebracht.
„War es lustig bei Elsa?“ fragte Johannes.
„Was? Ach – ja, gewiß, riesig nett. Elsa ist ja so eine geschickte Wirtin…“
„Du siehst blaß aus. Bist du spät heimgekommen?“
„Hast du mich nicht gehört?“
„Nein, ich habe geschlafen.“
„Ach so. Ja, es wurde ziemlich spät. Aber jetzt ist auch Schluß mit dem Bummeln. Ich habe genug.“
„Wie vernünftig du geworden, bist.“ Johannes lächelte ein bißchen. „Übrigens hat dich gestern jemand angerufen, ein… ein…“
„Hieß er Holm?“
„Ja, richtig, Holm. Ich sagte, du wärest bei Elsa Semming. Hat er dich erreicht?“
„Nein, aber das ist nicht so wichtig.“
Ich leerte die Kaffeetasse und schenkte neu ein. Essen konnte ich nichts. Und es war eine unsagbare Erleichterung, als Johannes die Wohnung verließ.
Wie im Schlaf machte ich Ordnung, staubte ab, räumte die Schlafzimmer auf und wusch das Geschirr. Ich hatte Kopfschmerzen, und ich fror. Ich zog eine Strickjacke an und fror trotzdem. Dann machte ich Feuer in dem offenen Kamin, setzte mich hin und starrte in die Flammen.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich fuhr zusammen. Ob es wohl… Ach, lieber Gott, laß es Torsten sein – lieber Gott…
Es war Mamilein, die draußen stand. Im Nerzmantel und mit einem Blumenstrauß in der Hand. „Vivi, ich muß mit dir reden.“
Die Augen unter dem Nerzhütchen flackerten hilflos. „Komm herein.“ Meine Stimme war tonlos. „Vivi, wieso hast du gewußt… warum…“, sie stockte. Ich antwortete hart und kurz: „Ich hörte Steffen Brede etwas von einem Stelldichein schwätzen mit einer reichen Frau, mit Villa und Weinkellerschlüssel und verreistem Mann.“
„Und da… bist du davon ausgegangen, daß ich das bin?“
„Ich ging nicht davon aus. Ich dachte daran als an eine grausame Möglichkeit.“
„Vivi, was glaubst du… was denkst du…“
„Ich glaube und denke das, was wahr ist. Daß dir vollständig jedes Verantwortungsgefühl fehlt. Die Macht, die du über Männer hast, nützt du aus zu etwas, was für dich ein Gesellschaftsspiel geworden ist. Es ist ein Lebensbedürfnis für dich geworden, anbetende Mannsbilder um dich zu haben. Gestern hätte es dein Leben zerstören können.“
Mamilein schluchzte ein bißchen und wischte sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch. „Du weißt nicht, wie das ist…“
„So, das weiß ich nicht? Glaubst du, du bist die einzige, die die Männer um den kleinen Finger wickeln kann? Das kann ich auch, sogar besser als du, denn ich habe etwas, was du nicht hast – die Jugend!“
Ich kam mir brutal und unbarmherzig vor, aber ich redete weiter, und ich sah, daß es Mamilein weh tat.
„Aber ich habe etwas, von dem du keine Ahnung hast, ich habe Verantwortungsgefühl! Die Macht, die du über Männer hast, solltest du zu etwas Gutem ausnützen. Du kannst einen Mann dazu bringen, alles zu tun, worum du bittest. Bitte doch zum Kuckuck nicht um Geschenke und Anbetung. Sporne lieber einen Mann an, das Beste in seiner Arbeit zu leisten oder auf irgendeinem vernünftigen Gebiet. Großer Gott, willst du denn nie erwachsen werden? Jetzt bist du siebenundvierzig, ich bin zwanzig, und hier sitze ich und bin die erwachsenere von uns beiden.“
„Du… du bist so anders. Du warst früher nicht so.“
„Weißt du, was ich früher war? Ich war nichts! Ein kleines Schulmädchen, das recht vernachlässigt wurde, ehe Johannes Ordnung in mein Leben brachte. Du, ich, wir beide schulden Johannes alles, bist du dir darüber klar? Jetzt bin ich aber kein
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