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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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die über und neben uns lebten: Maria, Jesus, der heilige Isidor, der heilige Antonius del Porcello und der andere heilige Antonius – der, der einem half, verlorene Dinge wiederzufinden.
    Im Halbschatten des Hauses waren mehrere vom Rauch des Kaminfeuers und von der Zeit angegriffene Abbildungen verteilt; mein Lieblingsbild war ein Souvenir, das sie vor Jahren von einer Pilgerreise nach Loreto mitgebracht hatten. Es zeigte fliegende Engel, die ein Haus trugen, leicht wie ein Taschentuch. Großmutter hatte mir, als ich sechs Jahre alt war, erklärt, es handele sich um das Haus von Maria, der Mutter Jesu, das die Engel nach Italien brachten, um es in Sicherheit zu bringen.
    »Können Engel Häuser transportieren?«, hatte ich verblüfft gefragt.
    »Natürlich.«
    »Auch fünfstöckige?«
    »Auch zehnstöckige.«
    »Wirklich? Dann können die Engel einfach alles!«
    Die Bestätigung bekam ich in der Nacht des heiligen Isidor, als ich mich plötzlich mitsamt der Matratze in die Luft gehoben fühlte. Die Entdeckung, dass jeder von uns auch einen persönlichen Engel zur Verfügung hatte, fügte dann dem Staunen die Freude hinzu. Wenn ich in Schwierigkeiten geriete, bräuchte ich bloß einen Pfiff auszustoßen, und schon käme er mir zu Hilfe wie der treue Rintintin.
    Abends im Bett zeichnete mir die Großmutter ein Kreuz auf die Stirn, und gleich darauf schlief ich glücklich ein. Auf diese Welt voller Natürlichkeit – eine Welt, in der die Dinge miteinander verbunden waren und dieser Zusammenhang dem Leben einen Sinn gab – traf eines Tages das, was damals die Doktrin genannt wurde, der Kommunionsunterricht.
    War nicht allein der Name schon außerordentlich beunruhigend? Von Doktrin kommt schließlich das Wort Indoktrinierung, und indoktriniert ist ein Mensch, der aufgehört oder gar nie begonnen hat, den eigenen Kopf zu gebrauchen. An einem Oktobernachmittag kam ich voller Fragen – all jene, die mir auf meinen Streifzügen in den Sinn gekommen waren – in dieses eiskalte Zimmer, und nährte in meinem Herzen die Hoffnung, dass wenigstens einige davon in jenen Stunden eine Antwort finden könnten. Doch es waren andere Zeiten, und es war verboten, während des Unterrichts zu sprechen – schon gar von den Dingen, die uns im Geist beschäftigten.
    Unser Lehrer war ein so großer, so hagerer Priester, dass es, wenn er hin und her ging, aussah, als schlotterte die Kutte um eine Stange. Damals kam er mir alt vor, doch wahrscheinlich war er höchstens vierzig: Wenn er sprach, überfiel ihn oft ein Tick, der seine Lippen verzerrte.
    Er hieß Don Mangialupi – Wolfsesser –, und dieser Name regte unsere kindliche Phantasie nicht wenig an. Mit monotoner Stimme erzählte er uns die biblischen Geschichten, sprach vom Leichtsinn Evas, der uns alle in die Sünde gestürzt hatte, vom Turmbau zu Babel, von der Sintflut, von Moses und von Isaak.
    Am liebsten von allen Geschichten mochte ich die von Noah – da gab es kaum Menschen und viele Tiere –, und schon dies schien mir Glück verheißend zu sein. In den übrigen Geschichten richteten die Menschen doch nur Unheil an, säten Leid und Tod.
    Als ich dann die Geschichte von Abraham und Isaak hörte, lehnte sich alles in mir dagegen auf, sodass ich mich sogar weigerte, die Szene in mein Heft zu zeichnen, wie Don Mangialupi verlangt hatte. »Nein, das mache ich nicht!«, sagte ich laut. »Nein?!«, echote der Priester ungläubig. »Nein!«, wiederholte ich. »Ein so gütiger Gott, der Engel erschafft, kann nicht so böse sein, dass er von einem Vater verlangt, seinen Sohn zu töten.«
    Er weigert sich hartnäckig, das Opfer auf dem Berg Morija zu malen , schrieb der Priester daraufhin auf das leer gebliebene Blatt. Beim nächsten Mal sollte ich es wieder mitbringen, unterschrieben von meinen Eltern. »Warum hast du das nicht gemacht?«, fragte meine Mutter. »Darum.« »Du bist genauso stur wie dein Vater«, sagte sie seufzend und unterschrieb.
    Mein Unbehagen wuchs, je länger ich den Kommunionsunterricht besuchte. Häufig war Gott in dem illustrierten Buch als Dreieck mit einem Auge darin dargestellt. Dieses Dreieck, betonte Don Mangialupi immer wieder, folgte einem überallhin, wusste stets, was man gerade tat, auch wenn man sich versteckte, es konnte einen immer sehen. »Es ist hässlich, Sachen heimlich zu machen, und dennoch tut man es. Ich bin mir sicher, ihr alle tut es«, sagte der Priester eindringlich.
    Dieses Bild Gottes als geometrisches Ereignis stieß

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