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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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mich ab. Dieses Dreieck, das immer über mir war, irritierte und verletzte mich, nirgends konnte ich in seinen spitzen Winkeln eine wie auch immer geartete Form von Liebe erkennen.
    Es wurde ein wenig besser, als Christus am Horizont erschien. Die Tatsache, dass er an meinem Lieblingsort geboren war – im Stall –, machte ihn mir gleich sympathisch, und außerdem gefiel es mir, dass er über die Felder wanderte – so wie ich, wenn ich bei den Großeltern war –, dass er stehen blieb, um mit den Leuten zu sprechen, denen er begegnete, dass er zuhören und auch wütend werden konnte; ich beneidete ihn um die Kraft des Zorns, den er bei den Pharisäern im Tempel gezeigt hatte. Mir passierte es oft, dass ich ähnliche Gefühle hegte, doch ob nun wegen meines Charakters oder wegen der genossenen Erziehung, solche Explosionen gab es bei mir nie; kaum fing die Lunte knisternd Feuer, fiel plötzlich von oben ein Regen, löschte den Zünder und machte das Pulver unwirksam.
    Welche Beziehung zwischen Jesus und dem allgegenwärtigen Dreieck bestand, hatte mir die Doktrin allerdings nicht erklären können.
    Einen Monat vor der Erstkommunion wäre es – dank dessen, was Don Mangialupi »meine Unwilligkeit« nannte – beinahe zur Katastrophe gekommen. Am Ende einer zusammenfassenden Unterrichtsstunde, die sich um die Allmacht des Dreiecks mit dem Auge drehte, meldete ich mich.
    »Sprich nur, Matteo«, sagte der Priester wohlwollend demokratisch.
    »Es ist nicht wahr, dass es allmächtig ist!«, stieß ich hervor. »Wenn es wirklich allmächtig wäre, hätte Gott im Garten Eden Adam nicht gefragt: ›Wo bist du?‹ Wenn ich schon weiß, wo jemand ist, frage ich ihn doch nicht …«
    Im Klassenzimmer herrschte verdächtige Stille. »Wer bringt dich auf solche Ideen?«
    »Niemand! Die kommen mir von ganz allein.«
    Daraufhin wurden meine Eltern einbestellt, und man sagte ihnen, ich sei noch zu unreif, um mich den Sakramenten zu nähern. Meine Mutter musste nicht wenig bitten und betteln, um dieses Veto zu Fall zu bringen, das mir dann noch jahrelang vorgehalten wurde. »Wenn ich nicht gewesen wäre«, sagte meine Mutter ständig, »wärst du nie zur Erstkommunion gegangen.«
    Indessen fand der schicksalhafte Tag statt.
    Ein Sonntag im Mai voller Licht und Düfte, ich trug ein dunkelblaues Jackett, eine kurze graue Hose, ein Hemd, eine kleine Krawatte mit Gummiband, und in dieser Aufmachung ging ich mit meinen Eltern zur Kirche.
    »Wenn Jesus mich wirklich liebt«, fragte ich meine Mutter kurz vorher, während sie mir mit einem nassen Kamm die Haare frisierte, »kann er mich dann nicht einfach so lieben, wie ich immer angezogen bin?«
    »Bitte«, zischte meine Mutter mich an, »halt doch ein einziges Mal den Schnabel, und mach ihn erst wieder auf, wenn wir im Restaurant sitzen.«
    Ehrlich gesagt, beunruhigten mich das Restaurant, die Geschenke, der Kauf des Anzugs, die ganze Aufregung der vorangegangenen Tage nicht wenig: Wenn an jenem Tag etwas Ungewöhnliches geschehen sollte – und zwar in meinem Inneren –, warum kümmerten sich dann alle nur um Äußerlichkeiten? Ich interessierte mich weder dafür, was wir essen würden, noch für die Geschenke, die ich bekommen würde, noch für die Gruppenfotos. Das Einzige, was mir wirklich am Herzen lag, war zu erfahren, ob mein Leben – wie die Doktrin behauptete – von dem Tag an völlig anders sein würde. Schon wochenlang hatte ich in einer Ecke des Balkons geübt, weiche Brotkügelchen, die ich vorher flach drückte, ohne den geringsten Kontakt mit dem Gaumen herunterzuschlucken, und mir schien, als sei ich für die große Begegnung gerüstet.
    Was würde passieren, nachdem ich die Hostie gegessen hatte? Würden wir von dem Augenblick an wirklich zu zweit sein? Und wie war es denn möglich, mit zwei Köpfen, zwei Herzen zu leben? Wenn meiner nun dahin wollte und seiner dorthin? Würde es sein wie bei den siamesischen Zwillingen, die ich einmal auf dem Foto gesehen hatte und die mich zutiefst erschreckt hatten? Oder würde dieses Ereignis so sein, wie wenn Mama an Sommermorgen die Fensterläden meines Zimmers aufstieß? Würde mich plötzlich das Licht überfluten?
    An der Marmorbalustrade kniend, fühlte ich mein Herz wie verrückt klopfen, während ich wartete, dass ich an die Reihe kam. Als ich dann den Mund öffnete und die Hostie sofort an meinem Gaumen kleben blieb – sie war nämlich kein köstliches Brot, sondern bloß eine schlaffe Oblate! –, empfand

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